Die Wand der Zeit
eine Woche Zeit, die Schwere der Krankheit einzuschätzen. Es verwundert nicht, dass manche ihre eigenen Angehörigen anzeigten, denn Krankheiten werden normalerweise zuerst in der Familie bemerkt. Einige Menschen zeigten sich selbst an. In drei Fällen waren sie völlig gesund, weigerten sich aber zu arbeiten. Mir blieb keine Wahl. Verstehen konnte ichsie nicht. Meistens zeigten sich jedoch die Alten und Gebrechlichen selbst an, diejenigen, die vom Leben genug hatten. Alle starben.
Zu Zeiten des Großen Plans erlebten wir fünfzehn Selbstmorde. Einige wiesen in ihren Abschiedsbriefen auf mich oder meine Ideen hin. Sie wurden nicht in unser Totenverzeichnis aufgenommen.
Ausreisen durften die Bürger auch nicht. Alles auf der Welt war zwischen Bran und Axum aufgeteilt. Da es nur so wenig gab auf der Welt, konnten wir nicht zulassen, dass irgendjemand – jemand aus den Siedlungen – Essbares stahl, das unseren brüchigen Gemeinschaften als Nahrung dienen konnte.
Die Grundidee war ganz einfach. Der Zustand der Welt, in der wir uns befanden, und die Kriegsjahre hatten nur wenige Tausend Menschen überleben lassen, die ums nackte Dasein kämpften, und diejenigen, die uns in der Zukunft hätten versorgen können – die Jungen –, starben jeden Tag. Wegen des Mangels an Nahrungsmitteln sollten nur diejenigen, die einen Beitrag leisten konnten, den beiden Siedlungen angehören dürfen, den beiden Gemeinschaften, aus denen eine neue Welt entstehen würde.
Besonders originell fand ich den Gedanken nicht. Auslöschen der Schwachen zugunsten der Starken. Die besten Ideen sind manchmal so einfach, dass man das Gefühl hat, sie seien schon von anderen ausprobiert worden. Aber es war die Idee, die unsere Zeit brauchte. Wir waren es uns schuldig, sie anzuwenden.
Als ich meine Rede beendete, stand Tora auf. Eine Wortmeldung von ihr war nicht vorgesehen. Sie war nur als Beobachterin geladen, da sie selbst keine Führungsposition innehatte. Einige der älteren Männer im Saal schrien sie an, gebotenihr zu schweigen. Aber sie ließ sich nicht beirren. Ich bemerkte sie gleich, als sie aufstand, und einen Moment lang blieb für mich die Zeit stehen. Sie hatte etwas an sich, auch wenn ich es damals nicht benennen konnte, das alles andere unwichtig erscheinen ließ. Von dem, was sie sagte, bekam ich nicht viel mit, oder ich weiß es nicht mehr. An ihre Stimme erinnere ich mich aber. Sie war leise und doch klar und fest. Irgendwie drang sie durch die Buhrufe, die Missbilligung der Männer, die für sie und ihresgleichen getötet hatten. Sie gab sich nicht geschlagen. Lieber Hungers sterben als zum Mörder an den eigenen Landsleuten werden, lautete ein Argument von ihr, das ich behalten habe. Sie war an jenem Tag etwas emotional, aber ich glaube, sie hat Eindruck gemacht, zumindest mit ihrer Entschlossenheit und ihrem Mut. Als sie weggeführt wurde, drehte sie sich nach mir um. Zum ersten Mal. Sie drehte sich nach mir um und sah mir, wie es schien, minutenlang in die Augen, dabei war es wohl nur eine Sekunde.
Das war, glaube ich, der stärkste Widerstand gegen die Idee, den ich erlebt habe. Das und die Schreie der Opfer und ihrer Angehörigen.
Wir nannten sie nicht Opfer. Wir nannten sie Märtyrer. Ein Wort aus einer anderen Zeit. Einer, der ans Opferbringen glaubt und sich opfert, um andere zu retten.
Eine Woche darauf begegnete ich ihr zufällig auf der Straße. Ich ging auf der einen Straßenseite, sie kam mir auf der anderen entgegen. Sie sah mich auch. Ich hob unwillkürlich die Hand und winkte. Sie wollte wohl zurückwinken, besann sich dann aber anders. Erst ein Jahr später habe ich sie schließlich geküsst. Ein Jahr später, als sie sich zu der Idee bekehrte. Sich jedenfalls so weit dazu bekehrte, dass sie sie nicht mehr bekämpfte.
Ich denke an Tora und lausche den Grillen – ein Geräusch, das ich seit Jahren nicht gehört habe. Es dauert lange, bis ich einschlafe.
Als ich aufwache, sehe ich nach dem Floß. Die meiste Ausrüstung lasse ich an Bord. Nur etwas Schnur, meine Aufzeichnungen und einen Wasserbehälter nehme ich mit. Ich will mich nicht unnötig beladen. Den Stein nehme ich auch mit. Er ist eher klein und trotzdem schwer genug.
Ich tippe Andalus auf die Schulter. Er steht sofort auf, nimmt, was ich ihm zu essen gebe, und läuft genau in der richtigen Richtung los, während er isst. Ich habe vergessen, dass auch er das Land kennt. Ich folge ihm mit ein paar Schritten Abstand.
Er kann das Tempo aber nicht
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