Die Wand der Zeit
ist wie das Leben auf der Insel vor Andalus, ich habe meinen Trott wieder. Das Floß treibt auf der schimmernden See. Sonst ist da nichts. Kein anderes Schiff, keine Vögel, keine Delfine, kein Laut. Ich sehe die Wolken, die sich im Meer spiegeln. Wenn ich mir die Jacke über den Kopf ziehe, höre ich meinen Atem, das Plätschern des Wassers gegen das Holz, hin und wieder ein Flattern des Segels. Manchmal schnarcht Andalus. Wir sitzen an entgegengesetzten Enden des Floßes. Ich habe immer Hunger, aber nicht übermäßig. Durst habe ich ebenfalls ständig, aber auch damit komme ich klar. Ich weiß meine Kräfte einzuteilen. Andalus scheint gegen die Rationierung nichts zu haben. Er stört sich an gar nichts. Er liegt da und hat die eine Hand im Wasser, die andere auf seiner Stirn. Eine feminine Haltung, die Pose eines Gecken, eines Müßiggängers. Ich ziehe mir die Jacke über den Kopf, um alles auszublenden. Das Wasser, das Floß, den Mann, der mir gegenübersitzt, einen Silberfisch, meine runzligen Hände. Ichdenke ans Fortgehen und Nachhausekommen. Mein Atem wird im Dunkeln lauter.
Sie steht am Ufer. Den einen Arm an der Seite, den anderen an der Stirn. Sie beschirmt die Augen mit der Hand. Die Handfläche nach außen, zum Meer hin gekehrt. Sie sieht zu, wie ich davonsegle. Sie ist die Einzige, die es sich ansieht. Ich sehe sie auch an: die Frau, die mich liebte, aber nicht genug.
Und ich sehe sie wieder da. Jetzt ist sie älter. Ergraut vielleicht. Sie sucht das Meer ab, die Hand über der Stirn. Ich frage mich, was hinter ihr ist, hinter ihr auf der Ebene, jenseits der Berge, der unfruchtbaren Äcker, wo hinter weißen Mauern die Siedlung Bran liegt und die Geschichte meiner Zukunft.
Nach tagelanger Fahrt wird das Meer zu Glas. Ich denke an die Ruinenstadt zurück, die Statue am Meeresgrund. Ob ich wieder darüber hinwegfahre? Ich schaue über den Rand. Ich stelle mir vor, ich würde mich lautlos in das klare Wasser hinablassen, Wasser atmen, schwimmen wie ein Fisch und dann auf den Straßen einer längst vergessenen Siedlung stehen, deren Gebäude um mich herum in die Dunkelheit ragen. Was würde ich dort finden? Wäre in den Winkeln schmaler Straßen, tief im Innern verlassener Gebäude unsere Geschichte zu entdecken – wie alles anfing? In der Schwärze unten tauchen Schemen auf. Wir fahren darüber weg. Wieder sehe ich die Ruinen unter uns. Nach dem Standbild Ausschau haltend, beuge ich mich vor, so weit es geht. In der Ferne, zu weit weg, um ihn genau zu sehen, zeigt sich ein Schatten nahe der Oberfläche. Ich wüsste gern, ob es das ist. Ob es immer noch unter dem Meeresspiegel schläft. Ein Flimmern, und es ist vorbei. Wir treiben weiter.
Drei Tage später nehmen wir etwas Fahrt auf. Ich habe immer noch Hunger. Auch ich lasse die Finger ins Wasser hängen. Andalus beachte ich möglichst nicht. Einmal ist er aufgestanden. Ich habe ihn angeschrien. So laut war ich seit Jahren nicht. Er zog den Kopf ein, und ich entschuldigte mich. »Es ist nur zu Ihrem Besten«, sagte ich zu ihm. »Setzen Sie sich wieder hin. In ein paar Tagen sind wir da.«
Das war nur geraten. Mein Kompass gibt mir zwar die Richtung an, aber ich weiß nicht, wie weit wir schon gekommen sind. Der einzige Anhaltspunkt, den ich habe, sind Ruinen auf dem Meeresgrund. Wir könnten morgen ankommen oder in einer Woche. Ich glaube, wir sind insgesamt schneller, aber die Strömungen scheinen gegen uns zu sein. Vielleicht hatte ich bei der Wegfahrt eine Strömung erwischt, die mich bis zur Insel getragen hat, und jetzt haben wir sie gegen uns, haben wir damit zu kämpfen. Wir lenken nach da, und das Meer unter uns lenkt nach dort, zu der Insel gleich hinterm Horizont, die mich wieder an sich ziehen möchte. Vielleicht sind wir überhaupt nicht vom Fleck gekommen.
Aber heute weiß ich, dass das nicht sein kann. Heute wache ich von der Sonne auf. Noch ehe ich die Augen öffne, spüre ich den Sonnenschein. Ich stehe auf und trinke Sonne. Ich ziehe mein Hemd aus. Ich breite die Arme aus und strecke mein Gesicht in die Luft. Gefühlte Stunden stehe ich so da. Stehe auf all dem Wasser, und zum ersten Mal seit zehn Jahren bin ich trocken. Von den Planken des Floßes steigt Dampf auf. Andalus liegt bewegungslos da.
Drei Tage nachdem die Sonne durchgekommen ist, sehe ich Land.
5
Die Küste zu erreichen dauert fast den ganzen Tag. Am frühen Nachmittag erkenne ich einen Küstenstrich wieder und steuere eine kleine Bucht an, an die ich mich
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