Die Wand der Zeit
Nahrungssuchende. Ich hätte erwartet, Spuren von Nomaden zu sehen, den Leuten, die es vorziehen, außerhalb der sicheren Mauern der Siedlung zu leben; sie konnten allerdings in der Zwischenzeit beseitigt worden sein. Schon zu meiner Zeit gab es nicht mehr viele. Aber wir haben nichts gesehen. Nichts und niemanden. Wieder frage ich mich, ob man
uns
gesehen hat. Vielleicht haben sie hier oben auf dem Berg kampiert und in Ruhe die beiden Gestalten beobachtet, die langsam über die Ebene kamen. Vielleicht lauern sie jetzt hinter dem nächsten Felsen auf uns.
Wir steigen zur Talsohle hinab und schlagen unser Lager auf. Ich schlafe wenig in der warmen Nacht. Ich bilde mir ein, ich kann die Menschen riechen. Holzrauch, verbranntes Fleisch, Abwasserkanäle, den Geruch von Wasser, das durch Rinnen, die ich selbst mit ausgehoben habe, in die ausgedörrte Erde läuft. Und ich bilde mir ein, ich kann sie hören: Stimmen, Atemgeräusche, sogar Gelächter. Es ist, als wäre ich wieder auf der Insel.
Am nächsten Tag wandern wir auf den Punkt am Horizont zu, wo ich die Siedlung gesehen habe. Wir wandern durch Blumenwiesen.
Das Paradies ist es aber nicht. Um Land wie dieses haben wir gekämpft. Wir haben gekämpft und unsere Toten unter solchen Wiesen verscharrt. Gesicht nach oben, nackt, der Erde preisgegeben. Vielleicht dachten wir, so ließe sich die Erde zurückgewinnen. Man munkelt, wir seien einst Naturanbeter gewesen. Vielleicht haben wir die Erde doch im Blut, strömt Erde durch unsere Adern wie in einem Stundenglas.
Gegen Abend taucht ein einzelner Baum am Horizont auf. Wir haben die Blumen hinter uns gelassen, und dieser Teil der Ebene ist weiß. Auf dem steinigen Boden wächst nur wenig. Der Baum ist ein auffälliger Klecks in der Landschaft. Als wir näher herankommen, sehen wir, dass er abgestorben ist. Er ist groß und robust, aber tot. Ich erinnere mich an den Baum. Damals war er noch nicht tot. Bei einer der wenigen Gelegenheiten, wo wir uns außerhalb unserer normalen Zeiten getroffen haben, sind Tora und ich hierher gekommen. Wir haben in seinem Schatten gesessen. Ohne viel Worte. Sie hatte den Kopf in meinen Schoß gelegt. Ich streichelte ihr Haar. Jetzt fahre ich mit der Hand über die Rinde. Sie ist glatt wie Papier. Ich erinnere mich, wie sich ihr Haar anfühlte.
Wir übernachten unter dem Baum. Es sind noch vier Stunden bis zu den Stadtmauern.
Wir brechen am frühen Morgen auf, und schon bald sehen wir Kornfelder vor uns: Gerste, Weizen und schließlich Mais, so hoch, dass er mich überragt. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als durchzulaufen.
In dem Maisfeld ist es stiller und dunkler. Wir wandern minutenlang, bevor ich es sehe. Oder es zu sehen meine. Zwischen den Blättern, schattenverhangen, ein Gesicht.
Ein Sekundenblick auf ein Gesicht, dann ein Rascheln in den Maisblättern. Erschrocken halte ich inne. Ich gebe Andalus ein Zeichen, aber er ist schon stehen geblieben. Ich warte. Alles still. Ich gehe einen Meter. Bleibe stehen. Lausche. Wieder nichts. Zu ändern ist es jetzt sowieso nicht mehr.
Sollte ich entdeckt worden sein, dann ist es eben so. Ich gehe weiter.
Einige Zeit später kommen wir unvermittelt aus dem Maisheraus. Vor uns liegt eine weiße Straße, die um das Feld herumführt, und auf der anderen Seite liegt ein Orangengarten. Unter den Bäumen hohes Gras. Es sieht zart aus und ist von einem so leuchtenden Grün, dass ich annehme, es gibt hier Wasser im Überfluss. Ich muss an Toras Mutter denken, wie sie im gesprenkelten Schatten ihres Apfelsinenbaums noch im Schlaf die wenigen Früchte bewachte, die er hergab. Die Bäume hier haben keine Ähnlichkeit mit ihren Vorgängern. Sie sind voll von grünem Laub und reifer Frucht.
Doch hinter dem Orangengarten liegt unser Ziel. Die Palisadenmauern der Stadt überragen die Bäume. Die von der Sonne grau gebrannten Mauern sind so hoch, dass wir weder Gebäude noch Dächer sehen können. Bis auf eines, und das kenne ich. Es ist mir so vertraut, dass es einen festen Platz in meinem Kopf hat. Mein Amt – das Amtsgebäude des Marschalls von Bran. Mir klopft das Herz. Ich ziehe Andalus über die Straße und in den Schatten der Bäume. Die Mauern verschwinden wieder.
Ich setze mich einen Augenblick hin und überlege, aber zu planen, zu berechnen gibt es jetzt nichts mehr. Ich kann nur noch um die Mauer zum Tor gehen, geradewegs die Hauptstraße entlang und ins Rathaus. Dort werde ich einen Beamten antreffen, Marschall Abel oder sonst
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