Die Wand der Zeit
jemanden, dem ich sagen kann, was ich zu sagen habe, irgendwas: »Da bin ich. Tötet euren Marschall, wenn es sein muss«, und fertig. Damit hat es sich. Was dann passiert, bedarf keiner Planung. Da muss man sich den Umständen anpassen.
Ich stehe auf, helfe Andalus hoch und mache mich auf den Weg. Wir sind auf der Seite der Stadt, die dem Tor genau gegenüberliegt. Ich gehe gegen den Uhrzeigersinn und achte darauf, dass Andalus nicht zurückfällt. Ich halte mich in Sichtweite der Straße, aber noch so tief zwischen den Bäumen, dass wir unsschnell verstecken können. Als wir halb um die Mauern herum sind, sehe ich die Abzweigung nach links, die zum Tor führt. Ich folge ihr noch innerhalb des Gartens, bis wir schätzungsweise dreißig Meter vor der Mauer sind, hole tief Luft und trete hinaus ins Sonnenlicht. Andalus halte ich an der Hand. Wir müssen jetzt schnell gehen, aber nicht zu schnell, und selbstbewusst, ohne überheblich zu wirken.
Wir kommen auf die Straße, und ich sehe, dass das Tor geschlossen ist. Ich bleibe jedoch nicht stehen, denn es ist oft geschlossen. In den Wachtürmen am Tor scheint niemand zu sein, jedenfalls sehe ich niemanden. Das ist neu. Ich trete ans Tor. Ich weiß nicht recht, was ich tun soll. Zögere, dann klopfe ich. Keine Antwort. Ich klopfe noch einmal lauter. Ich warte. Ich lege mein Ohr an die Tür, höre aber nichts. Schlage drei Mal mit der flachen Hand gegen das Tor. Ich drehe mich nach Andalus um. Er steht mit dem Rücken zu mir. Der Ebene, den Bergen zugewandt, wippt er auf den Fersen. Er will weggehen. Ich packe ihn am Arm und sage, er soll stehen bleiben.
Ich wende mich wieder zum Tor. Es hat außen keinen Griff. Ich drücke. Ich stemme meine Schulter dagegen, aber es gibt nicht nach. »Bran«, rufe ich. »Bran.« Ich meine ein Echo zu hören. Ich lausche am Tor, höre aber keine Schritte. Es ist Mitte des Nachmittags.
Ich trete einen Schritt zurück, nehme Andalus wieder beim Arm und gehe davon. Ich laufe um die ganze Stadt auf der Suche nach jemandem, der uns einlässt, jemandem, der mir sagen kann, wo alle sind.
Aber ich sehe niemanden. Manchmal läuft Andalus vor mir her. Ich beobachte ihn. Er scheint mit der Erde zu verschmelzen. Die Luft flimmert über dem Boden. Seine Füße verschwinden. Er schwebt rings um die Stadt.
Wir sind wieder am Tor. Ich versuche es noch einmal – klopfe, rufe, doch niemand kommt. Ich setze mich mit dem Rücken vor einen der Torflügel, den Kopf ans Holz gelehnt. Ich ziehe Andalus am Arm, damit er sich neben mich setzt. Ich schließe die Augen und warte.
Ich horche. Unwillkürlich horche ich auf Wellen, Wind, Möwen. Höre nichts davon. Gedanken treiben an die Oberfläche. Ich horche auf anderes, um sie abzustellen.
Schließlich schlafe ich ein.
6
Ich schrecke aus dem Schlaf. Es ist eine Stunde nach Sonnenaufgang. Ich blicke mich um. Andalus sitzt ein wenig entfernt zusammengesunken vor der Mauer. Zu meiner Linken ist der eine Torflügel, wie ich sehe, jetzt angelehnt. Nur einen Spalt weit geöffnet, aber offen. In der Nacht habe ich davon nichts mitbekommen, nicht bemerkt, dass sich jemand an mir vorbeigestohlen hätte. Das wundert mich. Ich habe normalerweise einen leichten Schlaf.
Ich stoße das Tor weiter auf. Die Straße liegt vor mir. Die Schatten der Dächer fallen auf den Straßenstaub. Ich blicke zu Boden. Im Staub sind Fußspuren. Die Häuser auf der Schattenseite sind dunkel, die anderen hell, von der Sonne beschienen. Alle sind grau. Altes Holz, mit den Jahren verwittert durch Sonne, Regen, Wind und gelegentlich auch Schneestürme. Auf der Straße ist niemand.
Ich stoße das Tor ganz auf und drehe den Kopf, um Andalus zu rufen, doch er ist direkt hinter mir und betrachtet ebenfalls die Stadt. Ich nehme ihn beim Arm, und wir betreten die Siedlung Bran.
Ich schaue nach rechts und links. Die Häuser sind stumm. Die Leute haben sich in ein Volk von Langschläfern verwandelt. Wo die Fenster Vorhänge haben, sind sie zugezogen. Die anderen Fenster sind schwarz. In den Häusern ist niemand zu sehen.
Aber ich spüre, dass Leute da sind. Wie ich mich neu ansSprechen gewöhnt habe, so muss ich mich vielleicht auch wieder daran gewöhnen, Menschen zu sehen. Ich spüre sie in Massen um mich herum. Würde ich plötzlich die Hand ausstrecken, könnte ich einen berühren. Sie machen mir Platz auf der Straße, um nicht mit mir zusammenzustoßen, ein sich teilendes Meer. Sie umschwärmen mich neugierig. Ich spüre ihren Atem im
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