Die Wand der Zeit
halten, und nach einer oder zwei Stunden übernehme ich wieder die Spitze wie gewohnt, drehe mich etwa alle hundert Schritte um und warte, bis er mich einholt.
Am frühen Morgen des nächsten Tages fangen die Berge vor uns die Sonne ein. Ich sehe ein grünes Tal, das zum Gipfel eines der Berge hinaufführt. Das ist der Pass. In diesem Licht ist er deutlich zu sehen. Ich habe das Gefühl, den Berg berühren zu können, obwohl er noch Meilen entfernt ist. Ich atme die kalte, trockene Luft ein. Ich spüre auch, wie die Sonne langsam die Landschaft erwärmt, spüre es, als wäre ich ein von ihr beschienener Stein, als wäre ich das Gras, das im Wind singende Laub.
Dieser Pass ist der einzige Weg durchs Gebirge. Ich kann nur hoffen, dass uns von der anderen Seite dort niemand entgegenkommt.
Ich habe den Horizont ständig nach Menschen abgesucht. Meine Augen sind noch ausgezeichnet, und ich habe niemanden gesehen. Aber ich weiß nicht. Ich frage mich, ob wir nicht längst gesehen worden sind und die Beobachter sich bewusst verborgen halten. In der Nacht habe ich mir vorgestellt, dass sie direkt außerhalb des Lichtkreises unseres Lagerfeuers waren. Mit ausdrucksloser Miene haben sie uns beim Essen und Schlafen beobachtet.
Wir wandern den ganzen Tag und sehen die Berge immer größer werden. Am Fuß des Passes schlagen wir unser Lager auf. Wieder essen wir gut zu Abend und nächtigen unter freiem Himmel. Die Landschaft hat sich in zehn Jahren sehr verändert. Was mag sich noch geändert haben? Ich denke an meinen Empfang. Werde ich überhaupt Gelegenheit bekommen zu sagen, um was es mir geht, weshalb ich hier bin, weshalb ich zurückgekommen bin, ehe ein Messer im Rücken mich der Sprache beraubt, ehe ein Pfeil mir die Kehle durchbohrt?
Ich nehme einen Ast vom Feuer und laufe um unser Lager herum. Ich halte den brennenden Ast über meinen Kopf. Das Licht erhellt Buschwerk, Sand, Bäume, aber keine Menschen. Ich lösche die Flamme und bleibe ein wenig an der kühlen Luft. Aus tiefstem Dunkel beobachte ich durch das Lagerfeuer Andalus. Nur sein Kopf ist hinter den Flammen und dem Rauch zu sehen. Langsam gewöhnen sich meine Augen an die Dunkelheit. Die Nacht tut sich vor mir auf.
Bis zum Gipfel ist es weiter, als es scheint. Mitte des Vormittags lassen wir die Bäume hinter uns und steigen, den natürlichen Konturen des Bergs folgend, im Zickzack den Hang hinauf. Links säumt ein Steilabfall, rechts loses Gestein den Weg nach oben. Der Anblick des Gipfels pumpt mir Kraft in die Beine.Innerhalb von Minuten geht mir jedoch die Luft aus, und ich kann nur noch daran denken, wo ich den Fuß hinsetze und wie ich meinen Atem wieder beruhige. Ich bleibe stehen und merke, dass Andalus verschwunden ist. Mich fröstelt, als ein Windstoß über den Gipfel fährt. Ich schaue den Pfad hinunter, schließe die Augen, öffne sie. Ich sehe ihn wieder. Er kämpft sich voran. Ich warte.
Ich sollte ihm nicht zu viel abverlangen. Wenn er stirbt, sich davonmacht, stehe ich da. Ich warte, bis er wieder ruhiger atmet, und biete ihm Wasser an. Er trinkt alles in einem Zug. Ich lasse ihn. Dann sage ich freundlich: »Wir gehen jetzt langsamer. Sie sind so etwas nicht gewohnt. Ich möchte ja nicht, dass Sie mir sterben, bevor wir zu der Siedlung kommen.« Als ich das sage, sieht er mich an. Dabei scheint er ein wenig zu lächeln, als ob er den Doppelsinn meiner Worte ahnt. Diesen Gesichtsausdruck kenne ich von früher.
Bis wir den Gipfel erreichen, ist es Nachmittag. Wir kommen um eine Felsnase herum und sind da. Eine weite Ebene erstreckt sich unter uns. Sie leuchtet in verschiedenen Farben, gelb, rosa, blau, weiß, so weit das Auge reicht. Wildblumen prägen die Landschaft und geben der Luft ein zartes Aroma. Ich bin verblüfft. Noch nie habe ich solche Blumen gesehen. Aber die Blumen sind nicht das Einzige, was ich sehe. In der Ferne, so weit weg, dass der Blick sie nicht direkt erfassen kann, zeichnen sich eine Rauchwolke und ein Schmutzfleck am Horizont ab. Das ist es. Das ist die Siedlung, die ich vor so vielen Jahren verlassen habe. Ich schaue eine Ewigkeit hin. Andalus kommt herüber, und ich spüre, dass er mich beobachtet. Ich wende mich kurz zu ihm und deute auf den Fleck. Er betrachtet ihn ausdruckslos, geht und setzt sich auf einen Stein.
Mich wundert, dass wir noch keinem Menschen begegnet sind. Wahrscheinlich haben wir noch zwei Tagesmärsche vor uns, aber ich hätte Kundschafter oder Patrouillen erwartet. Bauern und
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