Die Wand der Zeit
Orangengarten und jetzt dieses Gespräch über prächtige Traubenernten.
Die Unterhaltung stockt. Nach ein paar Sekunden wenden sie sich einem anderen Thema zu. Ich vermute, sie kennen sich nicht allzu gut.
Und ich unterbreche sie. »Entschuldigen Sie«, sage ich. »Sie haben sich gerade über Wein unterhalten. Ich war längere Zeit fort. Wann haben Sie angefangen, sich für Spaliermethoden zu interessieren?«
»Wie meinen Sie das?«, fragen sie prompt zurück.
»Vor zehn Jahren haben wir Spalierwein nur auf eine bestimmte Art gezogen.«
»Vor zehn Jahren waren wir noch nicht hier. Er ist seit sieben Jahren hier, ich seit fünf.«
Flüchtlinge, denke ich. Ich nicke ihnen zu und danke ihnen.Aber dann stelle ich noch eine Frage. »Erzählen Sie mir von Ihrem Marschall. Wie heißt er?«
Beide sehen mich mit strenger Miene an. »Ein guter Mann«, sagt der eine. Dann stehen beide auf und gehen davon.
Die Frau erscheint hinter mir, beugt sich über meine Schulter, sodass ich ihren Geruch wahrnehme, und sagt leise: »Machen Sie sich nichts draus. Die sind nicht so gesprächig.« Sie stellt eine Schale Suppe vor mich hin und einen Becher mit einem roten Getränk. Ich danke ihr, ohne mir meine Überraschung anmerken zu lassen, und sie geht. Als ich das Getränk koste, ist es tatsächlich Wein. In meinem ganzen Leben war Wein noch nicht frei erhältlich. Hin und wieder fanden wir mal ein Flaschenlager, verschüttet in irgendwelchen Ruinen. Meist war er ungenießbar. Zuweilen schmeckte auch einer. Dann war er süß. Ich trank wahrscheinlich eine Flasche im Jahr, und in der Gemeindeküche gab es nie welchen. Manche Flaschen hatten ein Etikett. Mit Wörtern, die ich nicht kannte, Bildern, die ich nicht verstand. Den roten Wein zu trinken war, als tränke man eine andere Welt.
Ich sehe, dass Andalus nichts zu essen bekommen hat. Das wundert mich zwar, aber ich bin von dem Essen vor mir zu sehr abgelenkt, um groß darüber nachzudenken. Allerdings sage ich ihm, er solle sich etwas bringen lassen, wenn ihm danach ist. Er gibt nicht zu erkennen, dass er mich gehört hat.
Die Suppe ist heiß, und ich esse sie schnell. Schon steht ein neuer Teller vor mir, beladen mit Fleisch und Gemüse. Schweigend esse und trinke ich. Der Wein rötet meine Wangen, das Essen wärmt mich. Ich sitze da auf der Bank, lächle bei mir und sage mir immer wieder, du bist zu Hause, du bist daheim, bis aus dem Lächeln ein Grinsen wird, während die Leute um mich herum essen, trinken, miteinander reden und lachen.
Als ich fertig bin, schaue ich, was die anderen tun. Mein Name ist nicht notiert worden. Ich sehe ein paar andere Leute aufstehen. Sie gehen geradewegs zur Tür hinaus, wobei sie der Bedienung zum Abschied zuwinken. Ich stehe ebenfalls auf. Im Hinausgehen komme ich an der Frau vorbei. Ich bleibe vor ihr stehen. »Haben Sie vielen Dank«, sage ich und warte ein wenig.
»Elba«, erwidert sie mit einem Lächeln.
Ich lächle und nicke ihr zu. »Danke, Elba.«
Draußen setze ich mich mit Andalus auf eine Bank, beuge mich vor und stütze den Kopf in die Hände.
Die Leute, die um uns herumlaufen, sind mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt. Mich wundert immer noch, dass es nicht mehr sind, aber vielleicht arbeiten sie alle auf den Feldern. Kinder spielen auf der Straße. Niemand beachtet die beiden alten Männer, die auf dem Marktplatz auf der Bank sitzen.
Dieser Marktplatz hat eine Geschichte. Er ist groß und auf allen Seiten von Gebäuden aus Holz umgeben, unter anderem der Gemeindeküche. Auf dem Platz haben wir öffentliche Versammlungen abgehalten. Hinten ist eine Bühne. Ich weiß noch, wie ich dort einmal stand. Der Platz war gerammelt voll. Ich glaube, alle Bürger, die laufen konnten, waren gekommen, um zuzuhören. Es waren so viele, dass der von Abertausend Füßen aufgewirbelte Staub über ihren Köpfen hing. Ich stand noch über der Staubwolke und sah auf mein Volk hinab. Ich machte eine Atempause und trank einen Schluck Wasser. Niemand rührte sich. Es war totenstill. Da wusste ich, dass sie mir gehörten. Ich lächelte innerlich. Zum Abschluss sagte ich: »Einst waren wir stark, wir brauchten nicht zu kämpfen. Wir werden wiedererstarken. Das wird nicht morgen sein, nicht nächstes Jahr,aber bald – schon bald werden wir stark genug sein, um dafür zu sorgen, dass so etwas nie wieder geschieht. Die Schuldfrage stellt sich hier nicht. In keiner Weise. Das Menschlichste, was wir tun können, ist, das Überleben unserer
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