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Die Wand der Zeit

Die Wand der Zeit

Titel: Die Wand der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Bruce
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ebenso an die Tür des ersten Krankenhauses, ebenso an das Gebäude am Standort der ersten Scheune. Ich war in der Tat der Mensch, der diese Stadt am besten kannte, und ich glaube, ich kenne sie immer noch am besten.
    Die Siedlung und die Insel. Karten, Aufzeichnungen, Anfänge. Meine Arbeit hier spiegelte sich in meiner Arbeit auf der Insel. Wobei das Gefühl, etwas Bleibendes zu schaffen, hier stärker war.
    Veränderungen nimmt man bei dem, was man am besten kennt, manchmal am ehesten wahr. Gerade weil man es so gut kennt. Man bemerkt körperliche Veränderungen – Falten, graue Haare – eher bei sich selbst als bei einem geliebten Menschen,als bei Freunden. Ein Anbau an diesem, eine neue Veranda an jenem Haus, dann eins mit andersfarbigen Vorhängen, dann ein ehemaliges Amtsgebäude, das jetzt als Wohnheim dient. Das an sich ist schon ein großer Unterschied.
    Manchmal ist es aber auch so, dass man an dem, was man am besten kennt, als Letzter die Änderung bemerkt. Hätte ich die Anzeichen eher erkannt – das Wegdrehen der Schulter, die Stille, wenn ich einen Raum betrat, das erstarrende Lächeln –, dann hätte ich mich vielleicht länger halten können. Ich war wohl doch kein so großer Politiker.
    Hätte ich denn etwas anders gemacht? Oder vielmehr, hätte ich etwas anders machen können? Die Bewohner gehorchten meinen Befehlen vertrauensvoll wie Hunde. Sie folgten mir wie Hunde, weil ich voranging, weil ich ihnen den Weg wies. Ich zeigte ihnen, wie man lebt, wie man überlebt. Sie kamen von überall und nirgends mit nichts, wofür es sich zu leben lohnte, bis sie jemanden fanden, der sie aus der Dunkelheit hinaus in die schöne neue Welt führte. Weil ich ihnen zeigte, wie man lebt, machte es ihnen nichts aus, für mich zu töten, denn so töteten sie nicht für mich, sondern in ihrem eigenen Interesse. Und sie waren nicht dumm. Alle wussten, was sie taten. Ich war der Dumme. Ich hatte nicht mit dem Luxus der Schuldgefühle gerechnet. Ist das Überleben erst gesichert, setzen die Schuldgefühle ein. Sie kommen nur, wenn das Überleben gesichert ist. Und Schuldbewusstsein ist Ansporn zur Veränderung. Mein Fehler. Ganz und gar kein guter Politiker.
    Dennoch liebe ich diese Stadt, diese Menschen. Sie waren auch mein Leben. Ich trage ihnen nichts nach.
    Der Regen hält nicht lange an. Die Sonne kommt wieder durch. Von den Hausdächern steigt Dampf auf.
    Ich atme tief. Es war ein seltsamer Empfang, vielleicht sogarein Schlag ins Wasser, aber ich bin zu Hause und baumle nicht an einem Strick. Ich lege den Arm um Andalus und drücke ihm die Schultern. Er sieht mich überrascht an.
    Ich bin hungrig, da ich außer ein paar Orangen gestern Abend hier noch nichts gegessen habe. Das alte Küchenhaus ist mein nächstes Ziel. Da ich keine Marken und keine Lebensmittelkarte habe, muss ich auf das Mitgefühl des Kochs zählen. Und natürlich gibt es für den Besuch in der Gemeindeküche noch einen anderen Grund. Ich hoffe Tora dort zu finden.
    Unterwegs mustere ich unwillkürlich Gesichter, suche nach einem, das ich kenne, nach den schulterlangen braunen Locken, der schlanken Taille, dem zielbewussten Gang. Ich glaube, ich würde sie sogar erkennen, wenn ich ihr Gesicht nicht sehen könnte, wenn sie wie in einer Kindergeschichte plötzlich keins mehr hätte. Sie ist mir in Fleisch und Blut übergegangen. Ich versuche mir ihr Gesicht vorzustellen, kann es aber nicht. Auf der Insel ging es, aber hier, wo ich ihr näher bin, ist es weg. Ihr Gesicht war mir so vertraut wie mein eigenes, doch auch das kann ich mir nicht genau vorstellen, nachdem ich es zehn Jahre lang nur in Pfützen gesehen habe. Ihren Gang aber kenne ich, ihre Haltung, die Art, wie sie den Kopf zurückwirft, damit ihr die Locken nicht über die Augen hängen. An die Augen erinnere ich mich ebenso, wenn auch nicht an ihr ganzes Gesicht. Ich erinnere mich an das Lächeln. Ihr Lächeln. Es war niemals vollständig, nie ganz fröhlich, aber es hatte Macht über mich. All die Jahre, die ich mit ihr zusammen war, habe ich danach Ausschau gehalten, nach den Falten in ihrem Mundwinkel, dem einen Grübchen, dem scheuen Abwenden des Blicks, wenn sie denn lächelte. An all das erinnere ich mich, aber nicht an ihr Gesicht.
    Von ihrem Lächeln war ich besessen. Damit hatte sie michin der Hand, ob sie es wusste oder nicht. Wenn ich es bei einem Besuch nicht zu sehen bekam, wartete ich nervös auf den nächsten und wieder nächsten. Fern von ihr war ich eine

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