Die Wand der Zeit
sondern auch, weil ich genau wusste, dass er mir als Vorwand diente, als Rückfahrschein von der Insel. Seine fehlende Bereitschaft, über die einfachste Mimik hinaus zu kommunizieren, ist in mancher Hinsicht nützlich. Wenn er mir die Wahrheit gesagt hätte, mit seiner Geschichte herausgeplatzt wäre, hätte ich es vielleicht nicht vor mir rechtfertigen können, die Insel zu verlassen und die Siedlung auf ihn aufmerksam zu machen. Sein Schweigen war mir nützlich. Ich bin mir über meine Beweggründe nicht im Unklaren. Aber ich muss ihn zum Sprechen bringen. Und zwar bald.
Während ich da im Halbdunkel liege, frage ich mich, wann ich wohl erkannt werde, als der gesehen werde, der ich bin, der ich war. Wer wird der Erste sein? Wer wird als Erster den Blickvon seinem Teller heben und mich anstarren? Ob er dann die Zähne zusammenbeißt und die Stirn runzelt? Wird es still im Raum, während ich mich nichts ahnend dem warmen Essen und dem Wein widme, und sehe ich, wenn ich dann aufblicke, ein ganzes Heer von Männern, die finster ihren Exmarschall anstarren? Wer greift als Erster zur Sichel und geht auf mich los, schreit mich an, säbelt mich nieder?
Oder geht es freundlicher ab – ein Ausdruck des Wiedererkennens in den Augen des Marschalls, eine hochgezogene Braue und ein »Ach, Sie sind das!«?
Oder erkennt Tora mich als Erste? Wenn ich sie finde, dann bestimmt. Sie kann mich nicht vergessen haben. Einen Menschen, mit dem man fast ein halbes Leben lang das Bett geteilt hat, vergisst man nicht. Seinen Versorger vergisst man nicht. Den Mann, der die einzige Verwandte, die man noch hatte, aufhängen ließ, vergisst man nicht.
Das hat sie mir verziehen.
Sie musste es mir verzeihen. Es stand so im Gesetz.
Außerdem hatte sie mir selbst von der Hinfälligkeit ihrer Mutter erzählt, hatte sie selbst dem Henker die Tür geöffnet.
Das habe ich ihr verziehen.
Ich musste es ihr verzeihen. Ich selbst hatte sie gezwungen, ihre Mutter im Stich zu lassen, einen Menschen zu verraten, den sie liebte.
Warum sie es getan hat, darüber habe ich nicht weiter nachgedacht. Alle machten es ja so. Aber bei Tora war es anders. Sie war diejenige, die gesagt hatte: »Lieber sterben als zum Mörder an den eigenen Leuten werden.« Ich hätte sie fragen sollen. Ich hätte mehr darüber nachdenken sollen, warum sie es getan hat, was sich hinter dem ungerührten Augenausdruck verbarg. So vieles hätte ich tun sollen. Jetzt kann ich nur raten.
Ich denke daran zurück, wie ich sie an jenem Abend festgehalten habe, als sie zum ersten Mal nach dem Tod ihrer Mutter wieder zu mir kam. Hat sie mir etwas zugeflüstert? Vielleicht gesagt: »Sie hatte genug gelitten. Bestimmt wollte sie erlöst werden«? Ich überlege. Ich höre etwas. Vielleicht ist es nur der Wind draußen, der durch die Straßen fegt.
Erst nach vier Tagen kam sie und sagte mir Bescheid. So lange hätte sie nicht warten dürfen. Was sie wohl in dieser Zeit durchgemacht hat?
Ich kann nicht glauben, dass Tora wie die anderen war. Sie nicht. Kalt. Schwach. An sie möchte ich glauben. Ich kann unmöglich glauben, dass es nicht irgendeinen anderen Grund, eine Erklärung für ihr Handeln gab. Ich kann sie doch nicht so umgekrempelt haben. So entmenscht.
Ich werfe Andalus’ Arm von mir und klettere aus dem Unterstand. Er kommt gähnend hinter mir her. Ich sage ihm, er soll im Unterstand bleiben. Er rührt sich nicht, kommt mir aber auch nicht nach, als ich auf die Straße gehe. Ich nehme ihn später mit, im Augenblick bin ich lieber allein. Ohne ihn komme ich schneller voran.
Ich will zu Abel. Wenn mir irgendjemand die gegenwärtige Lage erklären kann, dann er. Ich bin neugierig zu erfahren, wieso er nicht mehr Marschall ist. Man wird zwar in das Amt gewählt, aber bestimmte Wahlperioden hatten wir nicht. Tod und offenbar auch Verbannung waren unsere Gründe für Neuwahlen. Wenn ein Volk mit lebensbedrohlichen Umständen konfrontiert ist, schert es sich nicht um Feinheiten der politischen Einstellung, es schert sich nicht darum, wer richtiger liegt, wer moralisch höher steht. Es will nur einen starken Führer, einen Führer mit klaren Vorstellungen und klarem Kopf. Es vergeudetauch nicht seine Energien damit, dass es sich über etwas so belangloses wie Wahlperioden streitet. Unser Volk ist Wandel nicht gewohnt, und Abel war genau der Richtige, um mein Vermächtnis noch viele Jahre fortzuführen. Willensstark, offen, traditionsbewusst, hätte er eigentlich genau das sein müssen,
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