Die Wand der Zeit
Führerpersönlichkeit, bei ihr ein kleiner Junge.
Jetzt sind wieder mehr Leute draußen, aber noch immer habe ich niemanden wiedererkannt, und niemand scheint mich zu kennen. Ich verstehe das nicht. Die Menschen können unmöglich alles vergessen haben.
Ich bin ein Fremder in meiner Stadt. Es ist, als wäre ich bei mir zu Hause, aber jemand hätte die Möbel umgestellt und oben im Bett schliefe eine Frau, die ich nie gesehen habe.
Es ist nicht weit bis zur Gemeindeküche. Die Hauptgebäude liegen alle ganz zentral. Ich wollte, dass sie wenn irgend möglich direkt im Zentrum und nah beim Rathaus sind. Mein Schutzinstinkt vermutlich. Ich biege um eine Ecke, und da ist sie. Sie hat sich überhaupt nicht verändert. Schon aus fünfzig Metern rieche ich Essensdüfte. Ich bleibe eine Weile stehen. Ich habe wirklich Hunger, aber ich weiß auch, dass Tora um diese Zeit immer Dienst hatte. Ich überlege, was ich sagen soll. Nicht den genauen Wortlaut. Die ersten Worte will ich ihr überlassen. Ich gehe zu dem Gebäude, betrete es aber noch nicht. Ich gehe außen herum und schaue in die Fenster. Drinnen sehe ich Bänke, auf denen ein paar Leute sitzen. Frauen laufen mit Tabletts voller Essen und Getränken in Bechern zwischen ihnen umher. Das ging früher ganz anders zu.
Einige Gesichter sind mir vertraut, aber es ist niemand dabei, den ich mit Namen kenne. Und Tora ist nicht zu sehen. Ich weiß nicht, ob ich darüber enttäuscht oder erleichtert bin. Auch wenn sonst bei dieser Reise nichts herauskommt – sie wiederzusehen ist mir wichtig. Aber was wird hinter der Tür sein, wenn ich sie aufmache? Ich hatte Jahre Zeit, sie zu vergessen.Noch mal will ich das nicht durchmachen. Und doch weiß ich, dass ich sie suchen werde. Wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, ist das sogar ein Hauptgrund für meine Rückkehr: die Frau wiederzusehen, die ich liebe, eine Weile mit ihr zu reden, ihr Fragen zu stellen, Fragen, auf die ich seit zehn Jahren eine Antwort suche. Vielleicht etwas Zerbrochenes zu kitten, etwas, das Jahre meines Lebens in Anspruch genommen hat.
Ich stoße die Tür auf und trete mit Andalus ein. Ich rechne damit, dass die Leute verstummen, aber das tun sie nicht. Niemand sieht von seinem Essen auf. Außer einer Kellnerin guckt überhaupt niemand. Von einem Tresen am anderen Ende sehe ich sie zu mir herschauen. Ich weiß nicht, was ich tun soll, ob es noch wie früher läuft. Soll ich mich ruhig hinsetzen und aufs Essen warten, soll ich vorab erklären, wieso ich vielleicht nicht auf der Beköstigungsliste stehe, oder soll ich hier einfach warten, bis jemand kommt und mich zu einem Platz führt? Zu meiner Zeit stellte man sich an, ließ seinen Namen abhaken, setzte sich auf eine der langen Bänke und bekam zu essen. Aber hier ist keine Warteschlange. Plötzlich steht die Frau vor mir.
»Hallo«, sagt sie. Sie lächelt.
»Möchten Sie Platz nehmen?« Sie deutet auf einen freien Tisch. Sie sieht mich an, aber nicht Andalus. Es ist zwar eine Weile her, aber jetzt fallen mir die Rituale wieder ein. Das Lächeln, mit dem man einen Fremden begrüßt, keine Einladung, aber auch keine Zurückweisung.
»Danke«, sage ich. Ich setze mich hin, und sie geht. Es sind nicht viele Leute da. Wir haben einen großen Tisch für uns allein. Am Nebentisch links sind zwei Männer in ein Gespräch vertieft. Rechts von uns sitzt eine Frau mit einem Kind. Sie füttert es. Das Kind lässt mich nicht aus den Augen.
Ich lausche dem Gespräch zu meiner Linken. Es dreht sichum nichts Besonderes, Wetter und Ernte – jedenfalls vordergründig. Doch die Männer rechnen offenbar mit einer reichen Ernte und diskutieren darüber, wie man Weinreben am besten am Spalier zieht. Das ist das Interessante daran. Früher gab es nur eine Art, Wein am Spalier zu ziehen, weil es uns einzig um den Ertrag an Trauben ging. Die beiden hier erörtern, inwieweit die Anbaumethode den Geschmack der Traube beeinflusst.
Ich bin erfreut, ja stolz. Die Bestimmungen, die ich erlassen habe, die strengen Gesetze scheinen ihren Zweck erfüllt zu haben. Lebensmittel werden offenbar nicht mehr rationiert, die Landwirtschaft nicht mehr reguliert und überwacht, weil sich die Produktion verbessert hat und mehr Nahrung vorhanden ist. Meine Bestimmungen haben die Siedlung vor dem Verhungern bewahrt. Die Tendenz konnte man schon zu meiner Zeit als Marschall beobachten, aber ich bin erstaunt, wie weit das alles gediehen zu sein scheint, die Weizenfelder, Maisfelder, der
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