Die Wand der Zeit
Sie schon in der Küche, seit Sie hier wohnen? Wenn ja, müssten Sie sich über den Weg gelaufen sein.«
»Vielleicht kannten wir uns, und ich habe es vergessen. Man vergisst ja die unmöglichsten Sachen.«
Ich lächle. »Sie ist schwer zu vergessen.«
Sie neigt den Kopf, antwortet sonst aber nicht.
»Ich muss das fragen«, sage ich. »Wissen Sie, wer ich bin?«
Sie sieht mich, wie mir scheint, mit einem Lächeln im Gesicht an. »Ich habe Sie nie gekannt.«
Eine etwas merkwürdige Antwort. Einen Moment lang überlege ich, ob sie mit mir flirtet. Ich versuche es noch einmal: »Ich komme Ihnen nicht bekannt vor?«
»Sie hätte ich bestimmt nicht vergessen.«
Ich trete zurück ins Sonnenlicht. Ich frage mich, wie sehr ich mich verändert habe. Offenbar muss ich Tora und Abel woanders suchen. »Entschuldigen Sie die Störung«, sage ich.
Sie lächelt und schließt leise die Tür.
Andalus ist noch da, wo ich ihn zurückgelassen habe. Ich ziehe ihn hoch.
Inzwischen ist es Abend. Auch wenn Tora und Abel noch nicht gefunden sind, heute kann ich nicht mehr viel ausrichten. Wir brauchen eine Unterkunft, einen Platz zum Schlafen. Ich bin obdachlos in einer Stadt, die mir gehören sollte. Wir könnten hinaus zu dem Orangenhain gehen, aber ich möchte nicht wieder vor verschlossenen Toren stehen. Ich denke daran, noch mal den Marschall aufzusuchen und ihn nach einer Übernachtungsmöglichkeit zu fragen. Und ich denke an die Frau, die in Toras Apartment wohnt, aber das wäre unschicklich. Ich entschließe mich, in der Stadt nach einem verlassenen Haus oder sonst einer Unterkunft zu suchen.
Ich gehe in Richtung der Verwaltungsgebäude. Nach ein paar Minuten fällt mir eine Gasse ein, die unseren Zwecken dienlich sein könnte. Vor den Ämtern biege ich rechts in einen engen Durchgang ein. Er macht einen Knick nach links und mündet nach ein paar Metern dann in einen kleinen Hof. Der Hof hat kein Tor. Da kein Verkehr hindurchführt, könnten wir hier sehr gut unterkommen, zumindest bis ich weiterweiß.
Vor zwei Mauern sind Möbel und Kisten gestapelt. Und mit einer Plane, die ich finde, lässt sich ein Teil davon abdecken.Ich nehme den Stein aus der Tasche und verstecke ihn in einem Winkel.
Andalus krabbelt in den Unterstand, als ich ihn dazu auffordere. Er legt sich hin und deckt sich mit Packpapier zu. Wie ich sehe, ist die Stelle wirklich ein gutes Versteck. Solange er keinen Krach macht, kann auf zwei, drei Schritte niemand ahnen, dass dort im Dunkeln ein Koloss liegt. Ich sage ihm, er soll still sein, auch wenn ich längst keine Antwort mehr von ihm erwarte, und krieche zu ihm hinein.
Eine Weile liege ich noch wach und lausche Andalus’ leisem Atem. Ein ganzer Tag in meiner Stadt ist vorüber. Niemand hat mich erkannt. Niemand hat auch nur zweimal auf mich oder Andalus geschaut, obwohl er so auffällt. Ein dicker, blasser Hüne unter Leuten, die dunkler, erdiger, näher am Boden sind. Nicht mal der Marschall, der sich von Amts wegen auskennen müsste, hat eine Reaktion gezeigt, als er mich sah. Ich habe ihm zwar nicht gesagt, wer ich bin, aber er hätte es wissen müssen. Ich bin der, der seiner Stadt Stabilität gebracht hat, und erst vor zehn Jahren bin ich verbannt worden. Man sollte mich noch kennen. Haben die Menschen ein so kurzes Gedächtnis? Wollen sie mich nicht sehen? Das ist zwar etwas beunruhigend, aber doch besser, als würde ich zum Galgen geschleift und auf dem Weg dahin meine Geschichte, meine Rechtfertigung herausschreien, ob sie einer hören will oder nicht.
Und Elba? Irgendetwas stimmt da nicht. Wir sind nur ein paar Tausend. Da vergisst man jemanden nicht, der vorher in derselben Wohnung gewohnt hat, die gleiche Arbeit macht, im selben Alter ist. Oder war.
Abel und Tora. Er hat mich fortgeschickt. Sie hat mich zurückgebracht. Ich werde beide finden.
7
Kurz vor Tagesanbruch erwache ich. Andalus hat den Arm um mich geworfen. Was empfinde ich für ihn, diesen Mann, dieses Gespenst? Die Wahrheit ist, ich empfinde immer weniger. »Empfinden« ist nicht das richtige Wort. Anfangs habe ich etwas empfunden. Für kurze Zeit hatte ich Angst, dann Mitleid, dann war ich wütend. Bis wir die Insel verlassen haben, schwankte ich zwischen Mitgefühl oder Verständnis und Abscheu darüber, dass er bei mir eingedrungen war und den Mund nicht aufmachte. Aber in die Wut mischten sich immer auch Schuldgefühle. Nicht nur, weil er vielleicht so viel durchgemacht hatte, dass er ein gebrochener Mann war,
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