Die Wand der Zeit
bin, oder?«
Er weicht vor mir zurück. Ganz kurz scheint Wut in seinem Gesicht auf. Er beantwortet meine Frage nicht. Er sagt lediglich: »Gehen Sie.«
»Ich muss mit Ihnen über den Mann sprechen: Was es mit ihm auf sich hat.« Ich stemme mich immer noch gegen die Tür.
Der Marschall blickt zur Seite, als ob da außerhalb meines Blickfelds noch jemand steht. Er scheint zu nicken. Nach einem kleinen Augenblick sagt er: »Morgen.« Damit schiebt er meine Hand weg und schließt die Tür. Das tut er keineswegs unsanft. Eher behutsam. Dennoch ärgere ich mich über das mangelnde Verständnis des Marschalls.
Ich starre eine Zeit lang auf die Tür, ehe ich mit der Faust dagegenschlage. Sie öffnet sich nicht.
Mir bleibt nichts anderes übrig, als zu gehen und zur vereinbarten Zeit wiederzukommen. Wenn mich der Marschall nicht gleich sprechen will, kann ich erst Tora und vielleicht auch Abel suchen. Ich hole Andalus, der zur vorderen Tür gestapft ist, und verlasse mit ihm den Hof.
Draußen sehe ich Leute. Ein Mann und eine Frau stehen vor dem Ausgang, als ob sie auf jemanden warten. Als sie mich sehen, wenden sie sich ab. Sie unterhalten sich miteinander.
Noch andere sind jetzt auf der Straße. Nicht viele und hauptsächlich Kinder. Sie laufen hintereinander her und wirbeln Staub auf, der dann in der Luft hängen zu bleiben scheint. Ich schaue nach dem Mädchen, das ich zuvor gesehen habe, kann es aber nicht entdecken. Unter den Erwachsenen ist keiner, an den ich mich erinnere. Niemand sieht mich an.
So habe ich mir das überhaupt nicht vorgestellt. Nicht aufder Straße erkannt, nicht vom neuen Marschall erkannt, den die Nachricht von Andalus weder überrascht noch gekümmert hat. Niemand, der gestutzt hätte. Ich bin weder angesprochen noch festgenommen worden. Darauf war ich nicht gefasst.
Die Menschen gehen jetzt schneller, sie laufen fast. Vielleicht, weil ich es von meiner Insel her so gewöhnt bin, merke ich nicht gleich, dass es angefangen hat zu regnen. Ich halte mein Gesicht in den Regen und spüre, wie die Tropfen mir langsam den Staub vom Gesicht waschen. Das weckt eine andere Empfindung. Ich würde es Heimweh nennen, aber das kann ja wohl nicht sein.
Wieder habe ich die Straßen für mich allein. Für mich und Andalus. Ich nehme ihn beim Arm und führe ihn ins Stadtinnere. Der Regen macht die Stadt dunkel, fleckt das Holz, färbt den weißen Staub braun. Ich rieche den Geruch sonnenverbrannter Erde, den der Regen freisetzt. Langsam gehe ich an einem Haus nach dem anderen vorbei. Bei einigen weiß ich noch, wer da wohnt oder gewohnt hat. Bei anderen nicht. Ich wandere durch ein Labyrinth von Straßen. Alles ist so vertraut und doch so anders. So lange her. Es gibt ein paar neue Gebäude, aber nur wenige. Obwohl die Erde vor den Toren der Stadt fruchtbarer geworden zu sein scheint, gibt sie innerhalb der Mauern noch immer nichts her. Kaum Pflanzen, wenig Farbe. Hier und da ist eine Tür rot, gelb oder grün gestrichen, und damit hat es sich.
Ich komme an dem Grundstück vorbei, wo Toras Mutter ihren Garten hatte. Der Stuhl, auf dem sie immer saß, ist weg. Der Orangenbaum ist noch da. Er gedeiht prächtig in der öden Umgebung. Ich bleibe stehen und stelle mich unter ihn. Ich spüre, wie die von seinen Blättern rinnenden Tropfen auf meinem Gesicht landen.
Die längste Zeit meines Lebens bin ich durch diese Straßen gelaufen, habe den Regen, das Holz, den Staub gerochen und dem Geschwätz der Nachbarn in den Straßen gelauscht. Es ist alles beim Alten, Häuser mit bis zu drei oder vier Stockwerken, erhöhte Holzveranden, Außentreppen, Balkone. Jedes Gebäude ist ein technisches Meisterwerk. Nicht großartig anzusehen, scheinbar wacklig und baufällig, in Wirklichkeit aber robust, und jedes für sich ein Labyrinth aus Zimmern und Wohnungen. Sie sind dicht nebeneinandergebaut, ursprünglich, um ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln. Aus ein paar wie zum Warmhalten zusammengedrängten Häusern entstand eine ansehnliche Stadt. Aber auch in späteren Jahren, als weniger Bedarf an Sicherheit herrschte, weil die Stadt gut befestigt und die Kriege vorbei waren, blieben wir bei dieser Bauweise. Sie spendete wohl Trost in harten Zeiten.
Ich war nicht nur der Marschall der Stadt, sondern auch ihr Historiker. So zeichnete ich Karten von ihren Anfängen, von den Standorten der ersten Häuser. Ich sprach mit den Gründervätern, bevor sie starben. An die Tür des ältesten Gebäudes nagelte ich ein Schild,
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