Die Wand der Zeit
weggesperrt. Entweder das, oder Abel dirigiert das Ganze. Sein Name steht noch an der Wand. Alle, die mich kennen, halten sich verborgen, während ich durch die Straßen laufe. Ihr Leben ist für die Dauer meines Aufenthalts ausgesetzt. Nur Kinder und Leute, von denen sie wissen, dass ich sie nicht kenne, dürfen auf die Straße.«
Ich lehne den Kopf gegen die Wand.
»Beweisen kann ich das natürlich nicht. Es ist bloß eine Theorie. Und ich verstehe auch den Grund nicht. Warum schießt man mir nicht einfach einen Pfeil ins Herz und fertig? Warum sagt man mir nicht auf den Kopf zu: ›Du hast hier nichts zu suchen. Hau ab.‹ Mir erscheint das inkonsequent. Ein Zeichen von Schwäche.«
Ich sehe zu ihm rüber. »Sie müssen mir helfen, Andalus. Ich komme der Wahrheit schon auf den Grund. Irgendwie ringe ich sie diesen Leuten ab. Ich werde sie dazu bringen, mich anzuerkennen, so wie ich oder vielmehr wir beide sie vor Jahren dazu gebracht haben, unserer Lage ins Auge zu sehen. Aber es geht schneller, wenn Sie mir helfen.«
Ich wende mich ihm zu. »Möchten Sie nicht für Ordnung sorgen? Möchten Sie nicht, dass das alles aufhört? Die Gedanken, die Gespenster, die Hunderte von Gespenstern?«
Und da schüttelt er den Kopf. Es ist eine so kleine Bewegung, dass ich sie mir eingebildet haben könnte. Ich warte, aber es kommt nichts mehr.
»Ist das Ihre Antwort, Andalus? Ist das Ihre Antwort? Nein? Empfinden Sie denn gar nichts?«
Sein Kopf ist jetzt von mir weggedreht. Reglos. Vielleichtwar die Bewegung nur ein Abwenden, keine Antwort. Seine Augen sind geschlossen. Ich drehe sein Gesicht zu mir her, und sie öffnen sich. »Haben Sie mir geantwortet?«
Seine Augen haben einen leeren Ausdruck. Sie erinnern mich an das Meer, über das wir gefahren sind. Blaugrau. Leblos. Aber irgendwo da drin, vielleicht versunken, liegt eine Saphirstadt, ein Denkmal für einen großen Menschen, eine Erinnerung, eine Geschichte.
Als ich später zu Elba komme, macht mir Amhara auf. Ehe ich etwas sagen kann, ist sie auch schon davongelaufen und lässt mich allein die Wohnung betreten.
»Hallo?«
»Hier bin ich. In der Küche.«
Elba steht über einen kleinen Herd gebeugt.
»Ich dachte, die wären alle längst aus dem Verkehr gezogen«, sage ich mit einer Kopfbewegung zu dem Herd hin.
Sie lacht. »Nein. Jetzt dürfen wir wieder.«
»Sie geben also zu, dass sich etwas geändert hat«, sage ich.
Sie sieht sich mit einem verwirrten Gesichtsausdruck um. »Natürlich. Alles ändert sich doch ständig.« Es ist, als wollte sie mich herausfordern.
Mein Magen rumort wegen des Geruchs in der Küche. Ich habe den ganzen Tag noch nichts gegessen. Amhara kommt hereingefegt, geht zu ihrer Mutter und flüstert ihr etwas ins Ohr.
Elba dreht sich um. »Meine Tochter möchte, dass Sie ihr etwas erzählen.« Sie lächelt entschuldigend. Amhara dreht sich rasch um und sieht ihre Mutter böse an. Es ist aber nur ein kurzer Moment, und ich mag mich irren. Ich beachte es nicht weiter.
»Was erzählen? Mal sehen. Möchtest du noch mehr über die Insel hören?«
Sie nickt, sieht mich dabei aber nicht an.
»Na schön.« Ich setze mich an den Tisch. »Auf der Insel habe ich in einer Höhle gewohnt. Es hat die ganze Zeit geregnet. Anders als hier. Ich habe zehn Jahre lang die Sonne nicht gesehen, oder nur als weiße Scheibe hinter Wolken. Es war eine triste Welt: grau, braun, blassgrün. Das sind nicht die Farben des Lebens. Neulich habe ich dir vielleicht den Eindruck vermittelt, die Insel sei das Paradies gewesen. Das stimmt nicht. Es war ein hartes Leben. Auszuhalten schon. Aber wenn man zehn Jahre lang nur den Regen und nie die Sonne auf der Haut spürt, ist das nicht schön. Dazu kam die Stille. Ich habe mir Sachen eingebildet.« Ich unterbreche mich jäh. Das hatte ich nicht sagen wollen.
»Wer war denn sonst noch da?«, fragt das Kind.
»Sonst? Keiner. Da war sonst keiner. Nur ich. Ich, die Vögel, die Fische, die Würmer.«
»Und was hast du dir eingebildet?«
Ich sehe erst sie, dann Elba scharf an. »Ich habe Menschen gesehen. Das heißt, ich wusste, dass sie nicht wirklich da waren, aber wenn man lange Zeit alleine ist, fängt man an, sich Sachen einzubilden. Und irgendwo wollte ich, dass sie da sind, wollte ich, dass sie wiederkommen.«
»Hast du deine Freunde vermisst?«
Ich bin froh, dass sie mich etwas missverstanden hat. »Eine Frau.« Ich werfe Elba einen Blick zu. »Es gab eine Frau, die mir gefehlt hat. Ich hoffe, ich habe ihr
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