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Die Wand der Zeit

Die Wand der Zeit

Titel: Die Wand der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Bruce
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liegt der Länge nach drinnen auf dem Tisch. Ich fahre zurück. Die Form eines Kopfes, zwei Knäuel am Ende als Füße, ein herunterhängender Arm. Er bewegt sich nicht. Natürlich weiß ich, dass es kein Leichnam ist. Aber der Anblick hat mich daran erinnert. Plastisch. Ein eingebildeter Leichnam anstelle der vielen Hundert vor ihm. Er nimmt den Platz der Toten ein.
    Ich trete die Tür ein. Langsam nähere ich mich durch den Staub dem Schemen. Staubteilchen flirren durch die Luft wie Fliegen. Sie schimmern in dem Sonnenstrahl, der durch die Tür einfällt. Ich trete heran und berühre den Schemen. Er gibt gleich nach. Es ist einer der Säcke, in die wir die Toten vor dem Begräbnis gehüllt haben. Einen Moment lang denke ich, wenn ich ihn aufreiße, bekomme ich Toras Mutter zu sehen – als wäre sie erst gestern gestorben –, doch er enthält lediglich weitere Säcke. Anscheinend sind sie so angeordnet worden, dass sie nach einem Leichnam aussehen. Warum, weiß ich nicht. Ich ziehe einen nach dem anderen heraus. Wieder Staub. Hinter mir raschelt es. Ich drehe mich rasch um, sehe aber nichts. An der Tür kneife ich die Augen gegen das Licht zusammen. Niemand zu sehen. »Wer ist da?«, rufe ich. Keine Antwort. Ich gehe um die Hütte herum zur anderen Seite, aber da ist nichts, und ich höre auch nichts mehr. Ein Karnickel, nehme ich an. Ich kehre in die Hütte zurück und nehme den Pseudoleichnam weiter auseinander. Der Staub bringt mich zum Niesen. Wieder erschreckt mich das Geräusch.
    Ich blicke mich in dem Raum um. Bis auf den Tisch und dieSäcke ist alles entfernt worden. Viel an Ausrüstung hatten wir nie gebraucht. Ein Stuhl, ein Tisch, eine kleine Plattform, einen Schrank, einen Strick, eine Kochgelegenheit für die Wachen, Messer, Schnur, Säcke. Das war’s.
    Der Schrank mit den Unterlagen ist fort.
    Ich gehe zur hinteren Wand. Strecke die Hand aus, fahre mit den Fingern über die Striche. Wir haben mit einem Stein jeweils eine kleine Kerbe in die Hüttenwand geritzt. Den siebten Strich zogen wir quer über die sechs vorhergehenden. Nach zweiundfünfzig solchen Blöcken fingen wir eine neue Reihe an. Warum wir die Toten so nach Kalenderart gezählt haben, weiß ich nicht mehr. Bedeutete jeder Tod einen weiteren Tag Leben für die Siedlung? Vielleicht. Aber es ist auch ein Zeichen von Respekt. Eine in Stein geritzte Kerbe vergeht nicht.
    Ich trete einen Schritt zurück. Die Striche reichen quer über die Wand und vom Boden bis zur Decke. Sie umgeben mich. Erdrücken mich.
    Ich weiß, wie viele es sind. Ich muss nicht nachzählen. Neunhundertsiebzehn Kerben sind an der Wand.
    Ich weiß noch den Namen hinter der ersten Kerbe, den Namen hinter der letzten und einige dazwischen. Auf der Insel habe ich versucht, mir weitere in Erinnerung zu rufen. Jede Nacht lag ich auf dem Bett und ging die Namen durch, während ich auf die Wand meiner Höhle starrte. Ich wollte mich unbedingt an mehr erinnern. Nach einer Weile zwang ich mich damit aufzuhören, indem ich dem Wind, den Wellen lauschte. An Bran, an Tora, Abel, meine Verbannung dachte ich nicht. Nur an die Namen. Einzig die Namen. Die meist ausdruckslosen, namenlosen Gesichter drängten gegen die Höhlenwand, die Wand der Zeit an, versuchten durchzudringen. Ich schloss die Augen, um sie auszusperren.
    Als Tora zu mir kam, nachdem ich ihre Mutter gehängt hatte, schloss ich sie in die Arme. Ich drückte sie, und mir hüpfte das Herz. Aber dann sah ich meine Hände auf ihrem Rücken. Ich erinnerte mich an das Blut, das Blut von Toras Mutter an meinen Händen, die jetzt nur ein dünnes Kleid von Toras Haut trennte. Ich nahm die eine Hand weg, hielt sie mit der anderen umso fester. Ich glaube aber, sie dachte, ich wollte sie loslassen. Das wollte ich nicht. Ich wollte sie weiter festhalten. Immer und ewig. Sie sah verletzt aus. Ich konnte nichts erklären. Sie löste sich aus meinem Griff, schob sich an mir vorbei und ging sich ein Glas Wasser holen.
    Jeden Einzelnen der neunhundertsiebzehn habe ich selbst als Klasse C eingestuft. Ich sah das als meine Aufgabe. Jeden Einzelnen habe ich zum Tode verurteilt. Manche weinten. Manche wollten mich angreifen. Die meisten waren zu schwach dazu. Ich wurde tausend Mal verflucht.
    Ich schließe die Tür, gehe nach draußen und laufe noch einmal um die Hütte herum. Dahinter ist alles zugewuchert, die Bäume sind nicht beschnitten. Meine Füße versinken in faulendem Obst, Unkraut, totem Gezweig. Wie in Schlamm. Ich trete

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