Die Wand der Zeit
sollst du doch nicht sagen.« Ihre Stimme ist nur ein atemloses Hauchen. »Was haben wir ausgemacht?«
Amhara sieht auf den Tisch. Sie macht ein finsteres Gesicht. »Na, du bist es aber doch nicht. Du tust nur so.«
»Ab mit dir! Gute Nacht!«
Amhara geht wortlos hinaus.
Ich bitte Elba mit einem Lächeln um Verzeihung. Einen Moment lang fehlen mir die Worte. Ich möchte sie nach dem fragen, was Amhara gesagt hat, doch Elba kommt mir zuvor. »Das Kind hat zu viel Fantasie. Ich wünschte, Sie würden ihm keine Flausen in den Kopf setzen. Die Geschichte von Ihnen und Andalus ist gut, schön ausgedacht, aber nichts für ein kleines Mädchen.«
»Das habe ich mir nicht ausgedacht, Elba. Es muss raus. Und die Leute müssen es hören. Außerdem glaube ich nicht, dass jemand zu viel Fantasie haben kann. Ohne Ideen, ohne Vorstellungen könnten wir genauso gut Hunde sein.« Mein Ausbruch überrascht mich selbst. Elba schweigt.
»Aber es stimmt schon«, lenke ich ein, »von drohendem Krieg sollte man einem kleinen Mädchen vor dem Schlafengehen nichts erzählen.«
Sie nickt. »Das Essen ist fertig. Da drüben steht Wein«, sie deutet mit dem Kopf auf einen Schrank. »Würden Sie einschenken?«
Danach reden wir nicht mehr viel, und das Schweigen ist etwas unbehaglich. Ich möchte über Amharas Bemerkungen sprechen und darüber, dass sich Elba nicht an Andalus erinnert, aber mir liegt nichts daran, sie zu verärgern. Gegen Ende des Abends erzähle ich ihr allerdings von meinem Gespräch mit dem Marschall. Mir fällt auf, dass sie mich dabei weder ansieht noch irgendeinen Kommentar abgibt. »Was halten Sie davon?«, frage ich schließlich.
Sie sieht mir in die Augen. »Ich glaube, der Marschall hat recht. Und ich meine, Sie sollten sich mit diesen Geschichten nicht mehr beschäftigen.«
Das verblüfft mich. »Recht? Womit denn recht?«
»Hat er eben. Mit allem. Unser erster Marschall war Madara. Ein großer Mann, wenn auch brutal. Den einen war ein Retter, den anderen ein Untier. So oder so, jetzt ist er für uns gestorben. Wir sind weiter. Sie sollten sich nicht darauf versteifen, Namen ändern zu wollen.«
Ich weiß nicht, was sie meint. »Nein. Sie haben unrecht. Diese Änderungen müssen zugegeben werden. Wir müssen die Verantwortlichen finden. Wie es aussieht, sind die Menschen hier so abgestumpft, dass sie alles schlucken, was man ihnen weismacht, nur um ihre Ruhe zu haben.« Dabei schlage ich mit der Gabel auf den Tisch. Sie legt ihre Hand auf meine und hält einen Finger an die Lippen.
»Sie wecken das Kind auf.«
Ich nicke. »Verzeihung. Aber Madara ist erfunden, eine Fantasiegestalt, eine Theaterfigur.«
Elba steht auf, genau wie gestern Abend, und tritt ans Fenster. »Kennen Sie die Legende von Bran? Bestimmt, denn Sie heißen ja auch so. Was uns nahe ist, kennen wir meistens.«
»Ja.«
»Dann wissen Sie auch, dass Bran einmal ein großer König war. Er herrschte zu einer Zeit, an die sich niemand erinnern kann, von der nie jemand gehört hat. Er regierte ein Reich irgendwo im Osten. Irgendwo. Bricht man nach Osten auf und gelangt zu den rauschenden Flüssen, den himmelhohen Bergen und den Früchten ohne Zahl, weiß man, dass man dort ist. Seltsame Wesen sollen da leben.«
Sie schweigt. »Er kam zu einer für sein Volk kritischen Zeit an die Macht. Das Volk war schwach. Doch er warf alle nieder, die ihm vor Augen kamen. Er vernichtete, was er an Nachbarn fand. Er schützte sein Volk, machte es stark, brachte ihm die Herrschaft über alle anderen. Eines Tages starb er dann. Erwurde von einem seiner eigenen Scharfschützen in den Rücken geschossen. Ein Unfall. Man zog den Pfeil heraus, doch gerade das war sein Tod. Er verblutete, und sein Blut tränkte den Boden des von ihm geliebten Landes.«
Sie trägt das vor, als hätte sie es auswendig gelernt.
»Die Menschen waren voller Angst. Ihr Retter war nicht mehr. Sie nahmen ein Messer und schnitten ihm den Kopf ab. Sie trugen ihn zum Rand des Königreichs, zur Küste. Mit dem Gesicht zum Meer steckten sie ihn auf einen Pfahl. Der Blick war so entsetzlich, so furchterregend, dass er alle Eindringlinge abschreckte. Sein Land wurde niemals erobert und gedieh ohne ihn zu einem Ort des Friedens, wo nur die Erinnerung an ihn blieb.«
»Wollen Sie damit sagen, dass das mit mir passiert ist?«
Elba gibt einen Spottlaut von sich. »Nein. Es ist bloß eine Geschichte. Etwas, das sich zugetragen hat. Sich zugetragen haben könnte.«
Ich trete zu ihr ans
Weitere Kostenlose Bücher