Die Wand der Zeit
Fenster. Zögernd lege ich ihr die Hand auf die Schulter. Zu meiner Überraschung legt sie den Kopf schräg, sodass ihre Wange auf meinen Fingern ruht.
»Wie hat sie das gemeint?«
»Wer?«
»Amhara. Wie hat sie das gemeint, dass Sie nicht ihre Mutter seien?«
Sie wird unter meiner Berührung steif.
»Sie kommt gerade in ein schwieriges Alter.«
»Trotzdem, was hat sie damit gemeint?« Mir ist klar, dass ich riskiere, den einzigen Menschen gegen mich aufzubringen, der sich für mich interessiert, aber die Wahrheit ist wichtiger.
Elba löst sich von mir und sieht mich an. »Gar nichts hat sie damit gemeint. Wie kommen Sie dazu, mir so eine Frage zu stellen?«
»Wer ist der Vater?«
»Das habe ich Ihnen doch gesagt.«
»Ist sie mein Kind?«
Elba zögert und lacht dann. Sie tritt einen Schritt zurück. Lacht erneut. Es ist ein hohles Lachen.
Ich rede weiter. »Sie ist nicht Ihre Tochter, oder?«
Das Lächeln verschwindet.
»Sie ist die Tochter von Tora. Als ich hierherkam, dachte ich das gleich, aber es ist mir gerade erst bewusst geworden. Ich habe Tora in ihr gesehen. Mich sehe ich auch in ihr.«
Elbas Blick flackert. Ihre Lippen bewegen sich, aber sie sagt nichts. Sie sieht mich nur an.
Ich fasse sie an den Armen. »Bitte sagen Sie mir doch, was los ist. Sagen Sie mir, warum mich niemand wiedererkennt. Sagen Sie mir, warum mich niemand kennen will.« Ich beuge mich ein wenig, als wollte ich vor ihr knien.
»Sagen Sie mir, was hier gespielt wird. Warum tut ihr alle so, als ob ihr nicht wisst, wer ich bin?«
Sie schweigt.
»Ich nehme das nicht hin. Ich könnte hier wieder Fuß fassen, ein neues Leben anfangen, vielleicht sogar mit Ihnen.« Sie sieht mich nicht an. »Aber noch geht das nicht. Erst will ich herausfinden, was seit meinem Fortgang mit dieser Stadt geschehen ist, was aus Abel, aus Tora geworden ist. Das ist zu eurem Besten. Unserem Besten. Wie wollt ihr vorankommen, wenn ihr euch nicht erinnert?«
Jetzt hat sie sich gefasst und sieht mich an. »Wieso glauben Sie zu wissen, was für uns am besten ist? Sie tauchen hier aus heiterem Himmel auf mit Ihrer seltsam altmodischen Sprechweise, den Staub der Berge am Jackett, und behaupten, Sie seien unser Marschall gewesen, ja Sie hätten die Siedlung überhaupterst gegründet. Sie erzählen tausend Geschichten. Ich habe keine Angst vor Ihnen. Ich schreibe Ihre Überspanntheiten einem, nun ja, exzentrischen Wesen zu, wie es dieser Stadt tatsächlich fremd ist. Wir haben gediegene Bürger, die ihren Geschäften nachgehen, aber Geschichten erzählt keiner gern. Das gefällt mir an Ihnen. Bloß tragen Sie so dick auf. Können Sie sich nicht geschlagen geben, zugeben, dass Sie sich irren, dass in den zehn Jahren, die Sie angeblich fort waren, etwas mit Ihnen passiert ist, an das Sie sich nicht erinnern, etwas, das Ihre Persönlichkeit verändert hat? Angeblich sind Sie verbannt worden, aber kann es nicht sein, dass Sie schlicht ein Seemann sind, der bei einem Schiffbruch beinah ertrunken wäre und, als er wieder zu sich kam, zwar durchaus bei Verstand war, aber dachte, er sei einmal ein Krieger gewesen, ein bedeutender Mensch, ein Schlächter?« Sie holt erst einmal Luft.
»Bran – sogar Ihr Name könnte erfunden sein. Die Stadt heißt schließlich auch so. Sind Sie ein Findling? Vielleicht wurden Sie bar jeder Erinnerung und jeder Geschichte hierher gebracht, haben sich im Hintergrund gehalten und gewartet, bis eine Geschichte in Ihnen Wurzeln fasste, bis sie wussten, wer Sie waren. Bran der Stadtmensch. Der Mann der Stadt. Sie behaupten, wir hätten Sie bewusst vergessen, Sie ausradiert, aber wissen Sie wirklich genau, dass nicht vielmehr Sie sich das alles ausgedacht haben? Sind Sie sicher, dass Ihre Geschichte stimmt?«
»Jetzt machen Sie sich lächerlich«, sage ich.
»Ja, vielleicht.« Sie schweigt. »Sie können aber doch auch nicht vernünftig erklären, wieso eine ganze Stadt beschlossen haben sollte, die Existenz zweier Männer und einer Frau sowie ihre eigene Vergangenheit zu vertuschen.«
»Stimmt, ich kann mir noch nicht erklären, weshalb ihreuch dazu entschlossen habt. Deswegen möchte ich ja, dass Sie mir helfen.«
»Was wollen Sie hören, Bran? Wie soll man darauf antworten? Sie können uns nie wieder kennenlernen.« Einen Moment lang schließt sie die Augen, als hätte sie etwas Falsches gesagt.
»Nie wieder, sagen Sie. Sie kennen mich also doch.«
»So habe ich das nicht gemeint. Ich kenne Sie nicht.«
»Ich bin Bran, euer
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