Die Wand der Zeit
dagegen. Mein Fuß trifft auf etwas Hartes. Ich bücke mich und hebe es auf. Es ist einige Zentimeter lang und mit brauner Erde verkrustet. Für Holz ist es viel zu hart. Ich reibe etwas von der Erde ab. Jetzt kann ich die Poren sehen. Es ist eindeutig ein Knochen. Wovon, weiß ich nicht. Er könnte genauso gut von einem Hund wie von einem Menschen sein. Ich scharre mehr Erde weg und knie mich hin, um noch etwas tiefer zu graben. Es geht schwer, und ich komme nicht weit, kratze nur an der Oberfläche. Dabei weiß ich, dass ich mit dem richtigen Werkzeug ganze Skelette freilegen könnte. Aber was würde das beweisen? Ohne Namen beweist es gar nichts. Einen Knochen findeich aber noch. Ich ziehe ihn heraus. Er stammt vom Bein eines Menschen. Steine und Laub fliegen umher, als ich ihn aus der Erde zerre. Dann stehe ich da mit ihm. Ich stehe da mit dem Schenkelknochen eines Menschen in der Hand, werfe den Kopf zurück und schließe geblendet die Augen.
Das Licht malt mir Muster auf die Augenlider. Ich öffne und schließe sie immer wieder in der Hoffnung, dass die Muster weggehen. Aber sie kehren bunter und bunter zurück. Ich fange an, Gesichter zu sehen. Ihre Gesichter. Ich bin von Bäumen umgeben. An jedem Ast hängt eine Leiche. Ameisen krabbeln ihnen über die Haut. Die Leichen hängen bis tief in den Hain, tief in das Dunkel des Gartens hinein. Die schwarzen Leiber schaukeln leicht im Wind. Ich kann die Stricke knarzen hören.
Erst am Spätnachmittag komme ich in die Stadt zurück. Ich gehe zum Unterstand. Andalus ist wieder da. Er döst an eine Wand gelehnt in der Sonne. Ich setze mich neben ihn, Schulter an Schulter. Er wacht auf, rührt sich aber nicht. Ich neige den Kopf zu ihm hin. Seine Körperfülle hat etwas Beruhigendes. Reales. Ich tätschele ihm die Hand. »Andalus«, sage ich. »Ich komme nicht weiter, Andalus. Ich bin hierhergekommen, um uns zu retten, aber ich komme nicht weiter.«
Er antwortet nicht. Seine Arme ruhen auf seinen Schenkeln. Ein Bild kommt mir in den Sinn. Das Bild habe ich als Kind gesehen. Ich fand es in einer Ruine, auf die unsere Gruppe während des Zugs nach Süden gestoßen war. Die Tiere auf dem Bild sahen wie Menschen aus, hatten aber kräftigere Kiefer und breitere Stirnen. Sie waren schwarz behaart und standen in einem Wald von saftigstem Grün. Mein Kinderverstand fand sie zugleich beängstigend und anziehend. Wenn ich zurückdenke, ist das vielleicht der Grund, wieso ich mich mehr als andere fürdie Vergangenheit interessiere: ein Bild von fremden Tieren in einem fremden Land. Ich zeigte es niemandem. Meine Eltern waren schon lange tot – ich hatte immer nur eine verschwommene Vorstellung davon, wie sie aussahen –, und Freunde hatte ich kaum. Aber auch sonst hätte ich mein Geheimnis mit niemandem geteilt. Ich wahrte es jahrelang. Eins der Tiere saß in genau der gleichen Haltung da wie jetzt Andalus. Warum ist er so geworden? Allmählich glaube ich, dass er nicht bloß durch irgendwelche Ereignisse in Axum traumatisiert ist, sondern obendrein den Verstand verloren hat. Es könnte sogar sein, dass ihm gar nichts zugestoßen ist. Kein schweres Trauma, kein schlimmes Ereignis wie Meuterei, Aufruhr oder ein Prozess. Vielleicht hat er den Verstand verloren und ist einfach eines Tages fortgegangen, um nie wieder zurückzukehren. Am Leben erhalten von der Kolonie als Zeichen der Menschlichkeit gegenüber einem einst bedeutenden Regenten, hat er irgendwann einfach die samtenen Fesseln abgestreift und sich davongemacht. Eine nicht ganz abwegige Erklärung.
Wieder denke ich an die andere Möglichkeit. Er ist schlauer als ich. Er entdeckt mich auf einer Insel, heckt einen raffinierten Plan aus und spielt mir etwas vor. Ich bringe ihn hierher, er erschleicht sich die Gunst der Leute und kehrt an der Spitze eines Heeres über Länder und Meere nach Axum zurück, um es den Rebellen oder der dritten Macht wieder abzunehmen und Recht und Ordnung wiederherzustellen. Noch wartet er ab, wartet er auf die rechte Gelegenheit, das Wort zu ergreifen. Früher oder später lässt er die Katze aus dem Sack.
Ich frage mich, wie es im umgekehrten Fall wäre. Was hätte ich getan, wäre ich verbannt worden, nichts ahnend im Herrschaftsgebiet von Axum gelandet und hätte Andalus allein auf einer Insel angetroffen?
Ich rede weiter. »Sie verstecken sich vor uns, Andalus. Davon bin ich überzeugt. Was gäbe es sonst für eine Erklärung? Es sind ja nur zehn Jahre. Sie haben Abel und Tora
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