Die Wand der Zeit
auch gefehlt. Und einen Mann. Ein ehemaliger Freund von mir. Der hat mir nicht so gefehlt.«
»Wieso nicht?«
»Weil er mich fortgeschickt hat, weil er sich mit den Bewohnernder Stadt zusammengetan hat, um mich zu entmachten und an die Grenze von Bran zu verbannen.«
»Warum das denn?«
Ich überlege. »Die Menschen waren der Meinung, es müsse sich etwas ändern. Ich wurde nicht mehr gebraucht.«
Amhara denkt ein wenig nach. »Du warst also allein.«
»Ja. Eines Tages habe ich dann aber jemanden entdeckt. Ich lief an der Küste entlang und sah ihn von Weitem im Sand liegen. Er war an den Strand gespült worden. Ich pflegte ihn wieder gesund und gab ihm Essen und Unterkunft.«
»Wo ist er jetzt?«
»Ich habe ihn mit nach Bran gebracht. Der Mann ist sehr wichtig. Mir war klar, dass ich ihn hierher bringen muss. Unsere Zukunft könnte davon abhängen. Ich habe ihn an dem Ort zurückgelassen, wo ich wohne. Er ist nicht sehr gesprächig.« Das sage ich mit einem Lächeln.
»Wieso nicht?«
»Ich weiß es nicht. Ich nehme an, er hat so etwas wie einen Schock erlitten und kann deshalb vorläufig nicht sprechen. Das gibt es manchmal. Im Krieg sehen die Menschen Sachen, die ihnen nicht gefallen. Das versetzt ihnen einen Schock. Manchmal verstummen sie dann. Ich habe das oft erlebt.«
»Ist es dir auch passiert?«
»Nein. Ich hatte Glück.«
Mit gesenktem Kopf scheint sie über das nachzudenken, was ich gesagt habe.
»Wie kann er denn dein Freund sein, wenn er nichts sagt? Er muss doch reden, damit du ihn kennenlernst.«
»Das ist eine gute Frage. Ich kannte ihn vor Jahren schon, lange bevor er auf die Insel kam. Er heißt Andalus und war General von Axum, ein sehr mächtiger Mann. Vor Jahren war ichhier auch sehr mächtig. Du musst kurz nach meiner Zeit als Marschall dieser Siedlung, kurz nach meinem Fortgang geboren sein. Andalus und ich haben uns den Frieden gebracht. Wir hatten jahrelang Krieg geführt. Aber wir haben ihn beendet, weil wir eingesehen haben, dass er unnütz war. Wir haben das sinnlose Sterben Tausender junger Menschen beendet.«
Ich blicke zu Elba, um zu sehen, ob ich zu weit gehe, aber sie steht mit dem Rücken zu mir und dreht sich nicht um.
»Das war vor über zwanzig Jahren – vor zweiundzwanzig hatte ich ihn zuletzt gesehen. Es war Frieden zwischen unseren Völkern. Wir hatten vereinbart, uns zurückzuhalten und niemals das Territorium des anderen zu betreten. Niemals. Daher nahm ich an, ich würde ihn nicht wiedersehen. Und dann taucht er da auf der Insel auf. Das gab mir zu denken.«
»Was dachtest du denn?«, fragt das Mädchen.
»Ich habe überlegt, ob wir wieder vor einem Krieg stehen. Findest du es nicht auch merkwürdig, dass mein Freund im Hoheitsgebiet von Bran aufgetaucht ist, nachdem er versprochen hat, dass weder er noch sein Volk jemals wieder in unsere Nähe kommt?«
Darauf dreht sich Elba um und sagt: »Das reicht mal für heute.«
»Ich würde gern noch mehr hören«, widerspricht Amhara. Sie sieht Elba an, die gleich nachgibt.
»Na schön. Ein bisschen noch«, sagt sie.
Ich erzähle weiter. »Ich bin noch aus einem anderen Grund zurückgekommen.«
»Weshalb denn?«
»Er und ich waren mächtige Männer, und unsere Vorstellungen entsprachen der Zeit. Einige lehnten unsere Ideen jedoch als barbarisch ab. Sie wollten uns Einhalt gebieten.«
»Hatten sie recht?«
Darauf antworte ich nicht. Ich sage: »Ich bin zurückgekommen, um vielleicht etwas wiedergutzumachen.« Dabei sehe ich ihre Mutter an.
Elba stellt den Teller ab, den sie in der Hand gehalten hat. »Sie ist zu jung, Bran. Schluss mit Fragen, Amhara.«
Das Kind sieht mich über den Tisch hinweg an, ohne seine Mutter zu beachten. Nach ein paar Augenblicken sagt es: »Ich würde ihn gern sehen, deinen Freund.«
»Deine Mutter hat ihn gesehen«, antworte ich.
»So?« Sie scheint ihre Anweisung an Amhara vergessen zu haben.
»Ja. In der Gemeinschaftsküche. Ich bin mit ihm reingekommen.«
Elba runzelt die Stirn. »Tut mir leid, ich kann mich nicht an ihn erinnern.«
»Er saß mir gegenüber. Sie haben ihn auch mit mir in der Stadt gesehen.«
Sie schüttelt den Kopf. »Tut mir leid.«
Ich bin überrascht. Seinen Anblick vergisst man nicht so leicht.
Elba wendet sich Amhara zu und sagt: »Jetzt ab ins Bett mit dir. Sag Gute Nacht.«
Das Mädchen beachtet sie nicht. Es sieht mich an und sagt: »Das ist überhaupt nicht meine Mutter.«
Elba lässt eine Pfanne fallen und fährt zu ihr herum. »Das
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