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Die Wand

Titel: Die Wand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlen Haushofer
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zusammen.
    Die ganze dumpfe Bedrücktheit der letzten Zeit glitt von mir ab und ließ mich leicht und befreit zurück. Wenn ich jemals Frieden empfunden habe, dann war es in jener Juninacht auf der mondbeschienenen Lichtung. Luchs saß dicht an mich gedrängt und blickte ruhig und aufmerksam zum tintenschwarzen Wald hinüber. Es fiel mir schwer, aufzustehen und weiterzuwandern. Ich durchquerte die taunasse Wiese und tauchte wieder in den Waldschatten ein. Manchmal raschelte es in der Dunkelheit, eine Menge kleiner Tiere mochte unterwegs sein. Luchs hielt sich lautlos an meiner Seite, vielleicht dachte er noch immer an einen Pirschgang. Der Pfad führte eine halbe Stunde lang durch den Wald, und ich mußte langsam gehen, weil das Mondlicht nur schwach auf den Weg fiel. Ein Kauz schrie, und sein Ruf klang gar nicht unheimlicher als irgendein anderer Tierlaut. Ich ertappte mich dabei, daß ich besonders vorsichtig und leise auftrat. Ich konnte nicht anders, irgend etwas zwang mich dazu. Als ich endlich aus dem Wald trat, war die erste Dämmerung angebrochen. Ihr trüber Schein vermischte sich mit dem Licht des untergehenden Mondes. Der Steig führte jetzt zwischen Latschen und Alpenrosen dahin, die im Zwielicht wie große und kleine graue Klumpen aussahen. Manchmal löste sich ein Stein unter meinen Füßen und polterte über die Halden zu Tal. Als ich den höchsten Punkt erreicht hatte, setzte ich mich auf einen kleinen Felsen und wartete. Gegen halb fünf ging die Sonne auf. Ein frischer Wind sprang auf und fuhr über mein Haar. Der graurosa Himmel färbte sich orange und feuerrot. Es war der erste Sonnenaufgang im Gebirge, den ich erlebte. Nur Luchs saß neben mir undstarrte wie ich ins Licht. Es kostete ihn große Anstrengung, nicht freudig zu bellen, ich sah es am Zucken seiner Ohren und an den wellenartigen Muskelbewegungen, die über seinen Rücken liefen. Plötzlich war es taghell. Ich stand auf und begann mit dem Abstieg ins Tal. Es war ein langgezogenes und dichtbewaldetes Tal. Mit dem Glas konnte ich nichts sehen als Wald. Ein gegenüber ansteigender Höhenrücken versperrte mir die Sicht. Das war enttäuschend, denn ich hatte gehofft, von hier aus wenigstens ein Dorf zu sehen. Ich wußte jetzt, daß ich den Weg durch die Latschen weitergehen mußte, wenn ich einen freien Ausblick suchte. Dort drüben lag eine Alm, und von ihr aus mußte ich weiter ins Land sehen können. Aber ich konnte nicht zur Alm und ins Tal, und so entschloß ich mich für das Tal. Es schien mir wichtiger zu sein. Vielleicht hoffte ich närrischerweise noch immer, dort unten keine Wand vorzufinden. Ich fürchte, es war so, denn anders hätte ich mir den Weg ersparen können. Ich befand mich jetzt im Nachbarrevier, das, soviel ich mich erinnerte, an einen reichen Ausländer verpachtet war, der nur einmal im Jahr, zur Hirschbrunft, erschien. Vielleicht war das der Grund für den schlechten Zustand der Straße; überall konnte man die Spuren des Frühlingshochwassers sehen. In Hugos Revier waren diese Schäden sofort ausgebessert worden. Die Straße glich stellenweise fast einem Flußbett. Es gab hier keine Schlucht. Zu beiden Seiten des Baches stiegen bewaldete Berglehnen an. Im ganzen hatte dieses Tal ein freundlicheres Gesicht als mein Tal. Ich schreibe »mein Tal«. Der neue Besitzer, wenn es ihn gibt, hat sich noch nicht bei mir gemeldet. Wäre die Straße nicht so ausgewaschen gewesen, hätte ich den Ausflug nur als Spaziergang angesehen. Je mehr ich mich der Talsohle näherte, desto vorsichtiger wurde ich. Ichstreckte den Bergstock vor mir her und achtete darauf, daß Luchs brav bei Fuß ging. Er schien übrigens von keinerlei bösen Ahnungen oder Erinnerungen geplagt zu sein und trottete vergnügt neben mir her. Ich befand mich noch im Wald, als ich mit dem Stock an die Wand stieß. Ich war sehr enttäuscht. Alles, was ich sah, war der Wald und ein Stückchen Straße. Die Wand war hier weiter von den ersten Häusern entfernt als drüben. Auch die große Jagdhütte, die erst vor zwei Jahren gebaut worden war und die jeden Luxus enthalten sollte, war noch nicht zu sehen.
    Plötzlich war ich sehr müde, ja fast erschöpft. Der Gedanke an den weiten Rückweg drückte mich fast zu Boden. Ich ging langsam ein Stück zurück bis zu einer Holzknechthütte, die ich gar nicht beachtet hatte. Sie lag in einer kleinen Mulde an den Berg geschmiegt, und ihr Eingang war völlig mit Brennesseln verwachsen. In der Hütte war nichts zu finden außer

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