Die Wand
tödlich verletzte. Ich fand Bißspuren an ihr, aber das schlimmste war eine innere Verletzung. Die Bisse hätte sie überlebt.
Einmal, es muß im ersten Winter gewesen sein, sah ich einen Fuchs am Bach stehen und trinken. Er war im graubraunen Winterpelz mit dem weißlichen Reif darüber. In der schläfrigen Stille der Schneelandschaft sah er sehr lebendig aus. Ich hätte ihn schießen können, ich trug das Gewehr bei mir, aber ich tat es nicht. Perle mußte sterben, weil einer ihrer Vorfahren eine überzüchtete Angorakatze war. Sie war von Anfang an als Opfer für Füchse, Eulen und Marder bestimmt. Sollte ichdafür den schönen lebendigen Fuchs bestrafen? Perle war ein Unrecht widerfahren, aber dieses Unrecht war auch ihren Opfern, den Forellen, geschehen, sollte ich es an den Fuchs weitergeben? Das einzige Wesen im Wald, das wirklich recht oder unrecht tun kann, bin ich. Und nur ich kann Gnade üben. Manchmal wünsche ich mir, diese Last der Entscheidung liege nicht auf mir. Aber ich bin ein Mensch, und ich kann nur denken und handeln wie ein Mensch. Davon wird mich erst der Tod befreien. Wenn ich »Winter« denke, sehe ich immer den weißbereiften Fuchs am verschneiten Bach stehen. Ein einsames, erwachsenes Tier, das seinen vorgezeichneten Weg geht. Es ist mir dann, als bedeute dieses Bild etwas Wichtiges für mich, als stehe es nur als Zeichen für etwas anderes, aber ich kann seinen Sinn nicht erkennen.
Jener Ausflug, an dem Luchs die tote Gemse gefunden hatte, war der letzte im Jahr. Es fing wieder an zu schneien, und bald lag der Schnee knöcheltief. Ich beschäftigte mich mit meinem kleinen Haushalt und mit Bella. Sie gab jetzt etwas weniger Milch und wurde zusehends dicker. Ich fing an, ernstlich auf ein Kalb zu hoffen. Oft lag ich schlaflos und bedachte alle Möglichkeiten. Sollte Bella etwas zustoßen, wurden auch meine Lebensaussichten viel geringer. Selbst wenn ein Kuhkalb geboren wurde, waren sie nur begrenzt. Nur ein Stierkalb konnte mich hoffen lassen, längere Zeit im Wald leben zu können. Noch immer hoffte ich damals, man würde mich eines Tages finden, aber soweit es mir möglich war, verdrängte ich alle Gedanken an die Vergangenheit und an die fernere Zukunft und befaßte mich nur mit naheliegenden Dingen: der nächsten Erdapfelernte und den saftigen Almwiesen. Der Gedanke an eine sommerliche Übersiedlung auf die Alm beschäftigte mich ganze Abende lang. Weil ich, seit ich weniger im Freienarbeitete, schlechter schlief, blieb ich abends länger auf (eine sträfliche Petroleumverschwendung) und las in Luises Magazinen, den Kalendern und Kriminalromanen. Die Magazine und Romane langweilten mich bald sehr, und ich fand immer mehr Gefallen an den Kalendern. Ich lese sie heute noch.
Alles, was ich über Viehzucht weiß, es ist sehr wenig, stammt aus diesen Kalendern. Auch die Geschichten, die darin stehen und über die ich früher nur gelacht hätte, gefallen mir immer besser, manche sind rührend und manche gruselig, besonders eine, in der der Aalkönig einen tierquälerischen Bauern verfolgt und schließlich unter dramatischen Umständen erwürgt. Diese Geschichte ist wirklich ausgezeichnet, und ich fürchte mich sehr, wenn ich sie lese. Damals aber im ersten Winter konnte ich mit diesen Geschichten noch nicht viel anfangen. In Luises Magazinen gab es seitenlange Abhandlungen über Gesichtsmasken, Nerzmäntel und Porzellansammlungen. Manche Gesichtsmasken bestanden aus einem Brei von Honig und Mehl, und ich wurde immer sehr hungrig, wenn ich darüber las. Am besten gefielen mir die prächtigen bebilderten Kochrezepte. Eines Tages, als ich sehr hungrig war, wurde ich aber so wütend (ich hatte immer einen Hang zu Jähzorn), daß ich die ganzen Rezepte in einem Schwung verbrannte. Das letzte, was ich sah, war ein Hummer auf Mayonnaise, der sich krümmte, als ihn das Feuer verschlang. Das war sehr dumm von mir, ich hätte drei Wochen damit einheizen können und verschwendete alles an einem Abend.
Schließlich hörte ich auf zu lesen und legte lieber mein Kartenspiel. Es beruhigte mich, und der Umgang mit den vertrauten schmutzigen Figuren lenkte mich von meinen Gedanken ab. Damals hatte ich einfach Angst vor dem Augenblick, an dem ich das Licht auslöschenund zu Bett gehen mußte. Den ganzen Abend hindurch saß diese Angst mit mir am Tisch. Die Katze war um diese Zeit schon weggegangen, und Luchs schlief im Ofenloch. Ich war ganz allein mit meinen Spielkarten und mit meiner Angst. Und jeden
Weitere Kostenlose Bücher