Die Wand
zu sein, nichts zu verklären und nichts anzuschwärzen.
Es ist schrecklich schwer, gerecht zu sein zu seiner eigenen Vergangenheit. In jener ferner Wirklichkeit war Weihnachten ein schönes, geheimnisvolles Fest gewesen, solange ich noch klein war und an das Wunder glaubte. Später wurde Weihnachten zu einem fröhlichen Fest, an dem ich von allen Seiten beschenkt wurde und mir einbildete, der Mittelpunkt des Hauses zu sein. Ich dachte keinen Augenblick daran, was dieses Fest meinen Eltern oder Großeltern bedeuten mochte. Etwas von dem alten Zauber war abgebröckelt, und es verlor immer mehr von seinem Glanz. Später, solange meine Kinder klein waren,erholte sich auch das Fest wieder, nicht für lange Zeit, meine Kinder waren nicht so anfällig für Geheimnis und Wunder wie ich. Und dann wurde Weihnachten wieder ein fröhliches Fest, an dem meine Kinder von allen Seiten beschenkt wurden und sich einbildeten, alles geschähe nur ihretwegen. Es war ja eigentlich wirklich so. Und noch ein wenig später und Weihnachten war kein Fest mehr, sondern ein Tag, an dem man gewohnheitsmäßig einander mit Dingen beschenkte, die man so oder so einmal hätte kaufen müssen. Schon damals war Weihnachten für mich gestorben, nicht erst an diesem vierundzwanzigsten Dezember im Wald. Es wurde mir klar, daß ich es gefürchtet hatte, seit meine Kinder aufgehört hatten, Kinder zu sein. Ich hatte nicht die Kraft gehabt, das sterbende Fest wieder zu beleben. Und heute, nach einer langen Reihe von Weihnachtsabenden, saß ich im Wald allein mit einer Kuh, einem Hund und einer Katze, und ich besaß nichts mehr von allem, was vierzig Jahre lang mein Leben ausgemacht hatte. Der Schnee lag auf den Fichten, und das Herdfeuer knisterte, und alles war so, wie es ursprünglich hätte sein sollen. Nur, es gab die Kinder nicht mehr, und es geschah kein Wunder. Ich mußte nie wieder durch die Kaufhäuser rennen und unnötige Dinge kaufen. Es gab keinen riesigen geputzten Baum, der im geheizten Zimmer langsam verdorrte, statt im Wald zu grünen und zu wachsen, keinen Kerzenschimmer, keinen vergoldeten Engel und keine süßen Lieder.
Als ich ein Kind war, sangen wir immer: »Ihr Kinderlein kommet«. Es ist immer mein heimliches Weihnachtslied geblieben, auch als es aus irgendeinem Grund nicht mehr oder nur selten gesungen wurde. Die Kinderlein all, wohin waren sie gegangen, verführt von den Verführten in das steinerne Nichts? Vielleicht war ich dereinzige Mensch auf der Welt, der sich an jenes alte Lied erinnerte. Etwas, das gut und schön geplant war, hatte sich übel entwickelt und war schlimm ausgegangen. Ich durfte mich nicht beklagen, denn ich war ebenso schuldig oder unschuldig wie die Toten. So viele Feste hatten die Menschen schon erschaffen, und immer hatte es einen gegeben, mit dem die Erinnerung an ein Fest gestorben war. Mit mir stirbt das Fest der Kinderlein all. In Zukunft wird ein verschneiter Wald nichts anderes bedeuten als verschneiten Wald und eine Krippe im Stall nichts anderes als eine Krippe im Stall.
Ich stand auf und trat vor die Tür. Der Lampenschimmer fiel auf den Weg, und der Schnee auf den kleinen Fichten glänzte gelblich. Ich wünschte, meine Augen könnten vergessen, was dieses Bild so lange für sie bedeutet hatte. Etwas ganz Neues wartete hinter allen Dingen, nur konnte ich es nicht sehen, weil mein Hirn mit altem Zeug vollgestopft war und meine Augen nicht mehr umlernen konnten. Ich hatte das Alte verloren und das Neue nicht gewonnen, es verschloß sich vor mir, aber ich wußte, daß es vorhanden war. Ich weiß nicht, warum mich dieser Gedanke mit einer ganz schwachen und schüchternen Freude erfüllte. Es war mir wohler zumute als seit vielen Wochen.
Ich zog die Schuhe an und ging noch einmal in den Stall. Bella hatte sich hingelegt und schlief. Ihr warmer sauberer Dunst lag über ihr. Sanftmut und Geduld strömten von ihrem schweren schlafenden Leib aus. So verließ ich sie wieder und stapfte durch den Schnee zurück zum Haus. Luchs, der mit mir ins Freie gegangen war, kam hinter einem Busch hervor, und ich sperrte die Tür von innen zu. Luchs sprang auf die Bank und legte seinen Kopf auf meine Knie. Ich redete mit ihm und sah, daß er darüber glücklich war. Er hatte sich meine Aufmerksamkeitin den letzten trüben Wochen verdient. Er verstand, daß ich wieder ganz bei ihm war und daß er mich mit Japsen, Winseln und Händelecken erreichen konnte. Luchs war sehr zufrieden. Schließlich wurde er müde und
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