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Die Wand

Titel: Die Wand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlen Haushofer
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Abend mußte ich doch endlich zu Bett gehen. Ich fiel fast unter den Tisch vor Müdigkeit, aber sobald ich im Bett lag, in der Dunkelheit und Stille, wurde ich hellwach, und die Gedanken fielen über mich her wie ein Hornissenschwarm. Wenn ich dann endlich einschlief, träumte ich und erwachte weinend und tauchte wieder unter in einen jener schrecklichen Träume.
    So leer meine Träume bisher gewesen waren, so überfüllt waren sie seit dem Winter. Ich träumte nur von Toten, denn selbst im Traum wußte ich, daß es keine Lebenden mehr gab. Immer fingen die Träume ganz harmlos und heuchlerisch an, aber ich wußte von Anfang an, daß etwas Schlimmes bevorstand, und unaufhaltsam glitt .die Handlung dahin bis zu jenem Augenblick, an dem die vertrauten Gesichter erstarrten und ich stöhnend erwachte. Ich weinte, bis ich wieder einschlief und zu den Toten hinabsank, immer tiefer, immer schneller, und aufschreiend wieder erwachte. Bei Tag war ich müde und teilnahmslos, und Luchs unternahm verzweifelte Versuche, mich aufzumuntern. Selbst die Katze, die mir immer ganz mit sich selbst beschäftigt erschienen war, schenkte mir kleine spröde Zärtlichkeiten. Ich glaube nicht, daß ich ohne die beiden den ersten Winter überstanden hätte.
    Es war gut, daß ich mich auch zwangsläufig mehr mit Bella befassen mußte, die so dick geworden war, daß ich jeden Tag auf das Kalb gefaßt sein mußte. Sie war schwerfällig und kurzatmig geworden, und ich redete ihr jeden Tag gut zu, um ihr Mut zu machen. Ihreschönen Augen hatten einen besorgten angestrengten Ausdruck angenommen, als machte sie sich Gedanken über ihren Zustand. Vielleicht bildete ich mir das auch nur ein. So war mein Leben geteilt in schreckliche Nächte und vernünftige Tage, an denen ich mich vor Müdigkeit kaum aufrecht halten konnte.
    Die Tage schlichen dahin. Mitte Dezember wurde es wärmer und der Schnee schmolz. Ich ging mit Luchs jeden Tag ins Revier. Dann konnte ich ein wenig besser schlafen, aber ich träumte immer noch. Es wurde mir klar, daß die Gefaßtheit, mit der ich mich vom ersten Tag an in meine Lage gefügt hatte, nur eine Art Betäubung gewesen war. Jetzt hörte die Betäubung auf zu wirken, und ich reagierte ganz normal auf meinen Verlust. Die Sorgen, die mir bei Tag zusetzten, um meine Tiere, die Erdäpfel, das Heu, empfand ich als den Umständen angemessen und damit erträglich. Ich wußte, ich würde mit ihnen fertig werden, und war bereit, mich damit zu befassen. Die Angst, die mich nachts überfiel, schien mir dagegen völlig unfruchtbar, eine Angst um Vergangenes und Totes, das ich nicht neu beleben konnte und dem ich in der Dunkelheit der Nacht hilflos ausgeliefert war. Wahrscheinlich verschlimmerte ich selbst meinen Zustand, weil ich mich so heftig dagegen wehrte, mich mit dem Vergangenen auseinanderzusetzen. Aber das wußte ich damals noch nicht. Weihnachten kam immer näher, und ich fürchtete mich davor.
    Der vierundzwanzigste Dezember war ein windstiller, grauverhangener Tag. Am Vormittag ging ich mit Luchs ins Revier und war froh darüber, daß wenigstens kein Schnee lag. Es war unvernünftig von mir, aber Weihnachten ohne Schnee schien mir damals erträglicher zu sein. Während ich so auf den vertrauten Steigen dahin-schritt, lösten sich die ersten Flocken und sanken ganzlangsam und still nieder. Es war, als hätte sich sogar das Wetter gegen mich verschworen. Luchs konnte nicht begreifen, warum ich nicht in Begeisterung geriet, als immer mehr Flocken aus dem grauweißen Himmel schwebten. Ich versuchte, ihm zuliebe fröhlich zu sein, aber es gelang mir nicht, und so trabte er bekümmert und mit gesenktem Kopf neben mir her. Als ich mittags aus dem Fenster sah, waren die Bäume schon weiß bestäubt, und gegen Abend, als ich in den Stall ging, hatte sich der Wald in einen richtigen Weihnachtswald verwandelt, und der Schnee knirschte trocken unter meinen Sohlen. Während ich die Lampe anzündete, wußte ich plötzlich, daß es so mit mir nicht weitergehen konnte. Das wilde Verlangen überfiel mich, nachzugeben und den Dingen ihren Lauf zu lassen. Ich war es müde geworden, immer weiterzufliehen, und wollte mich stellen. Ich setzte mich zum Tisch und wehrte mich nicht mehr länger. Ich spürte, wie die Verkrampftheit in meinen Muskeln sich löste und mein Herz langsam und gleichmäßig schlug. Schon der einfache Entschluß nachzugeben schien geholfen zu haben. Ich erinnerte mich sehr deutlich an früher, und ich versuchte, gerecht

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