Die Wand
warm wurde, nach ihrem unbekannten Sommerrevier abgezogen, und die Eule ließ sich auch nicht hören. Manchmal, wenn ich auf der Bank in der Sonne saß und die Abstammung Panthers und Tigers bedachte, glaubte ich, sie hätten eine Chance, davonzukommen. Natürlich war es mir nicht gelungen, sie einfach nicht zu beachten. Ich fing schon an, mir Sorgen um sie zu machen. Ich wünschte, die beiden würden rasch groß und stark werden und von ihrer schlauen Mutter alle Schliche lernen. Aber ehe sie etwas anderes gelernt hatten als Fliegenfangen, verschwand Panther im Gebüsch und kam nicht mehr zurück. Luchs suchte nach ihm, aber er blieb verschwunden. Vielleicht hatte ihn ein Raubtier verschleppt.
Tiger blieb allein zurück. Er suchte und schrie lange nach seinem Bruder, und als er ihn nicht fand, spielte er wieder mit seiner Mutter, mit Luchs oder mit mir. Wenn keiner sich um ihn kümmerte, raste er hinter einer Fliege her, spielte mit kleinen Zweigen oder Papierbällchen, die ich ihm aus einem Kriminalroman drehte. Es tat mir weh, ihn so allein zu sehen. Er war so schön gezeichnet und machte seinem Namen alle Ehre. Ich habe nie einen wilderen und lebendigeren Kater gekannt. Mit der Zeit wurde er meine Katze, weil seine Mutter nichts mehr von ihm wissen wollte und Luchs seine scharfen Krallen scheute. So schloß er sich ganz an mich an und behandelte mich abwechselnd als Ersatzmutter oder Raufkumpan. Ich bekam eine Menge Kratzer ab, bis er endlich begriff, daß er beim Spiel die Krallen einziehen mußte. In der Hütte zerfetzte er alles, was er erreichen konnte, und schärfte seine Krallen an den Tischbeinen und Bettpfosten. Das machte mir aber nichts aus. Ich besaß ja keine kostbaren Möbel, und selbst wenn ich sie besessenhätte, wäre mir eine lebende Katze wichtiger als das schönste Möbelstück. Tiger wird in meinem Bericht noch oft vorkommen. Ich durfte ihn nicht einmal ein Jahr lang behalten. Es fällt mir noch jetzt schwer, zu begreifen, daß ein so lebendiges Geschöpf tot sein soll. Manchmal bilde ich mir ein, daß er in den Wald zu Herrn Ka-au Ka-au gegangen ist und ein freies wildes Leben führt. Aber das sind nur Tagträume. Ich weiß natürlich, daß er tot ist. Er wäre, zumindest zeitweise, immer wieder zu mir zurückgekommen.
Vielleicht wird die Katze im Frühling wieder in den Wald laufen und wieder Junge haben. Wer weiß es. Der große Waldkater mag vielleicht tot sein, oder die Katze wird, nach ihrer schweren Krankheit im vergangenen Jahr, nie wieder Junge austragen können. Wenn es aber junge Katzen geben wird, so wird sich alles wiederholen. Ich werde mir vornehmen, sie nicht zu beachten, dann werde ich sie liebgewinnen, und dann werde ich sie verlieren. Es gibt Stunden, in denen ich mich freue auf eine Zeit, in der es nichts mehr geben wird, woran ich mein Herz hängen könnte. Ich bin müde davon, daß mir doch alles wieder genommen wird. Es gibt keinen Ausweg, denn solange es im Wald ein Geschöpf gibt, das ich lieben könnte, werde ich es tun; und wenn es einmal wirklich nichts mehr gibt, werde ich aufhören zu leben. Wären alle Menschen von meiner Art gewesen, hätte es nie eine Wand gegeben, und der alte Mann müßte nicht versteinert vor seinem Brunnen liegen. Aber ich verstehe, warum die anderen immer in der Übermacht waren. Lieben und für ein anderes Wesen sorgen ist ein sehr mühsames Geschäft und viel schwerer, als zu töten und zu zerstören. Ein Kind aufzuziehen dauert zwanzig Jahre, es zu töten zehn Sekunden. Sogar der Stier brauchte ein Jahr, um groß und stark zu werden, und ein paar Axtschlägekonnten ihn auslöschen. Ich denke an die lange Zeit, in der Bella ihn geduldig in ihrem Leib trug und nährte, die mühevollen Stunden seiner Geburt und die langen Monate, in denen er von einem Kälbchen zu einem großen Stier aufwuchs. Die Sonne mußte scheinen und das Gras für ihn wachsen lassen, Wasser mußte aus der Erde quellen und vom Himmel fallen, um ihn zu tränken. Er mußte gestriegelt und gebürstet werden, und sein Mist mußte weggeschafft werden, damit er trocken lag. Und das alles war vergebens gewesen. Ich kann darin nur eine greuliche Unordnung und Ausschweifung sehen. Vielleicht war der Mensch, der ihn erschlagen hat, wahnsinnig; aber selbst sein Wahnsinn hat ihn verraten. Der heimliche Wunsch zu morden, muß immer schon in ihm geschlafen haben. Ich bin sogar geneigt, ihn zu bedauern, weil er so beschaffen war, aber ich würde immer wieder versuchen, ihn
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