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Die Wand

Titel: Die Wand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlen Haushofer
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angenommen. An seine Mutter traute er sich nicht heran, aber denarmen Luchs quälte er den ganzen Tag. Und wie geduldig dieser Hund war! Mit einem Biß hätte er den kleinen Kater töten können, und wie vorsichtig ging er mit ihm um. Eines Tages schien aber auch für Luchs der Punkt erreicht, an dem man Tiger eine Lektion erteilen mußte. Er nahm den Kleinen am Ohr, schleifte den sich Sträubenden und Quiekenden durch die Stube und warf ihn unter mein Bett. Dann schritt er gemessen zum Ofenloch, um endlich in Ruhe schlafen zu können. Das leuchtete sogar Tiger ein. Da er aber unmöglich brav und ruhig sein konnte, stürzte er sich auf mich als auf sein nächstes Opfer.
    Ich war von der Holzarbeit noch sehr müde, aber er ließ mich nicht in Frieden. Immerzu sollte ich Bällchen werfen oder ihm nachlaufen. Besonders liebte er es, sich zu verstecken und mich, wenn ich ahnungslos vorüberging, in die Beine zu beißen. Es fehlten ihm nur kleine Hände, in sie zu klatschen, wenn ich entsetzt zur Seite sprang. Seine Mutter sah dies alles mit sichtlicher Mißbilligung. Ich glaube, sie verachtete mich, weil ich mich nicht zur Wehr setzte. Und wirklich, Tiger wurde manchmal zur Plage. Aber wenn ich an das Los seiner Geschwister dachte, brachte ich es nicht fertig, ihn abzuweisen. Er dankte mir auf seine Art, indem er sich zum Schlaf auf meine Knie niederließ, sein Köpfchen an meiner Stirn rieb oder, auf dem Tisch stehend, die Vorderpfote gegen meine Brust stemmte und mich aufmerksam aus honiggelben Augen ansah. Seine Augen waren dunkler und wärmer als die seiner Mutter, und seine Nase war von einem feinen bräunlichen Reif umsäumt, als hätte er gerade Kaffee getrunken. Ich gewann ihn sehr lieb, und er erwiderte meine Zuneigung beinahe stürmisch. Es hatte ihm ja auch noch kein Mensch ein Leid getan, und er teilte nicht die trüben Erfahrungen seiner Mutter.Immer wollte er mit mir in den Stall gehen. Dort saß er auf dem Herd und sah interessiert und mit gesträubtem Schnurrbart zu, wie ich Bella und den Stier versorgte. Sehr bald hatte er begriffen, daß Bella die Quelle der süßen Milch war, und ich mußte ihm sofort nach dem Melken seinen kleinen Teller füllen. Den beiden großen Tieren, denn auch der kleine Stier war ja für ihn ein Riese, näherte er sich nur vorsichtig und fluchtbereit.
    Seit Tiger sich so an mich anschloß, war Luchs ein wenig eifersüchtig geworden. Eines Tages nahm ich ihn mir vor, streichelte ihn und dann den kleinen Kater und erklärte ihm, daß sich gar nichts an unserer Freundschaft geändert hatte. Ich weiß nicht, ob er wirklich etwas davon verstand. In Zukunft duldete er den kleinen Kater, und da er sah, daß mir an Tiger etwas lag, warf er sich zu seinem Beschützer auf. Sobald Tiger ins Gebüsch ging, holte Luchs ihn am Nackenfell zurück. Die alte Katze kümmerte sich nicht um diese Dinge. Sie hatte ihr gewohntes Leben wiederaufgenommen, schlief bei Tag und ging bei Nacht auf Raub aus. Gegen Morgen kam sie zurück und schlief, an meine Beine geschmiegt, schnurrend ein. Tiger hatte dem Kasten eine kindliche Anhänglichkeit bewahrt und schlief auf seinem alten Lager. Er war noch nicht dahintergekommen, daß er eigentlich ein Nachttier war, und spielte viel lieber im Sonnenschein. Ich war froh darüber, denn bei Tag konnte man ein Auge auf ihn haben, und wenn ich mit Luchs wegging, sperrte ich ihn in eine Kammer.
    Ich hatte mich nicht geirrt mit meinen trüben Ahnungen. Der Mai begann kalt und naß. Es schneite und hagelte sogar, und ich war froh, daß die Apfelbäume schon verblüht waren. Ich besaß noch immer drei verschrumpfte Äpfel, und als ich einmal sehr hungrig war, aß ich sie alle drei auf einmal auf. Die Brennesseln waren wiederzugeschneit und mit ihnen alle Frühlingsblumen. Ich hatte wenig Zeit, mich um Blumen zu kümmern.
    Einmal im Frühling, als ich Heu aus dem Stadel holte, sah ich drei oder vier Veilchen. Gedankenlos streckte ich die Hand aus und stieß an die Wand. Ich hatte mir eingebildet, ihren Duft zu spüren, als aber meine Hand die Wand berührte, war auch der Duft weg. Die Veilchen hielten mir ihre kleinen violetten Gesichter entgegen, aber ich konnte sie nicht anfassen. So gering der Anlaß war, er verstörte mich tief. Abends saß ich noch lange bei der Lampe, Tiger auf dem Schoß, und versuchte, mich zu beruhigen. Während ich Tiger langsam in den Schlaf streichelte, vergaß ich allmählich die Veilchen und fing an, mich wieder daheim zu fühlen. Das ist

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