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Die Wand

Titel: Die Wand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlen Haushofer
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Leben selbst gewählt. Aber hatte sie das wirklich, sie konnte doch gar nicht wählen. Ich fand keinen allzu großen Unterschied zwischen ihr und mir. Ich konnte zwar wählen, aber nur mit dem Kopf, und das war für mich so gut wie gar nicht. Die Katze und ich, wir waren aus demselben Stoff gemacht, und wir saßen im gleichen Boot,das mit allem, was da lebte, auf die großen dunklen Fälle zutrieb. Als Mensch hatte ich nur die Ehre, dies zu erkennen, ohne etwas dagegen unternehmen zu können. Ein zweifelhaftes Geschenk der Natur, wenn ich es recht überlegte. Ich verscheuchte diese Gedanken und schüttelte den Kopf. Ja, daran erinnere ich mich deutlich, denn ich schüttelte ihn so heftig, daß etwas in meinem Nacken knackste und ich tagelang mit einem steifen Hals umhergehen mußte. Ernüchtert verbrachte ich die nächsten Tage damit, Holz zu sägen und meine Ferse zu heilen. Ich lief barfuß, machte mir kalte Umschläge, und die Entzündung ging wirklich zurück. Ich trank eine Menge Milch, rührte Butter, rieb die Hütte aus, stopfte meine zerfetzten Socken, wusch mein bißchen Wäsche und saß auf der Bank in der Sonne. Erst am fünften Tag nach dem Gewitter ging ich mit Luchs wieder ins Tal. In den folgenden Tagen brachte ich das restliche Heu ein. Gegen zwei Uhr wurde ich fertig und zog die letzte Bürde auf Buchenästen vom Waldsaum zum Stadel.
    Eine gewaltige Arbeit war getan; eine Arbeit, die monatelang wie ein riesiger Berg vor mir gelegen hatte. Jetzt war ich müde und froh. Ich konnte mich nicht erinnern, eine so große Befriedigung gefühlt zu haben, seit meine Kinder klein gewesen waren. Damals, nach der Mühe eines langes Tages, wenn die Spielsachen weggeräumt waren und die Kinder gebadet in ihren Betten lagen, damals war ich glücklich gewesen. Ich war eine gute Mutter für kleine Kinder. Sobald sie größer wurden und zur Schule gingen, versagte ich. Ich weiß nicht, wie es kam, je größer die Kinder wurden, desto unsicherer fühlte ich mich mit ihnen. Ich sorgte immer noch für sie, so gut es mir möglich war, aber ich war nur noch sehr selten glücklich in ihrer Nähe. Damals wandte ich mich wieder sehr meinem Mann zu; er schien mich nötiger zubrauchen als sie. Meine Kinder waren fortgegangen; Hand in Hand, die Schultaschen auf dem Rücken, mit wehendem Haar, und ich hatte nicht gewußt, daß das der Anfang vom Ende war. Oder vielleicht hatte ich es geahnt. Später war ich nie mehr glücklich gewesen. Alles veränderte sich auf eine trostlose Weise, und ich hörte auf, wirklich zu leben.
    Ich stellte Sense, Rechen und Gabel in den Stadel und verriegelte die Tür. Dann ging ich zum Jagdhaus. Der Bach war an der Wand ein wenig gestaut. Ich durchwatete das eiskalte Wasser und lockte Luchs ans Ufer. Später kochte ich Tee im Jagdhaus und teilte mein Mittagessen mit Luchs. Das Bett zeigte den Abdruck der Katze, und das beruhigte mich sehr. Vielleicht würden wir im Herbst wieder alle vereint sein am warmen Herd. Ich strich das Bett glatt, und dann besichtigte ich die Bohnen. Den ganzen Sommer hindurch hatten sie rot und weiß geblüht, jetzt hingen sie schon voll kleiner grüner Schoten. Der Gewittersturm hatte wohl die Blütenblätter verstreut, aber die Ranken und Stöcke nicht geknickt. Ich beschloß, den Bohnengarten ein gutes Stück zu vergrößern und mir allmählich einen sättigenden Ersatz für Brot zu verschaffen. Es war inzwischen August geworden, in wenigen Wochen würden wir in unser Winterquartier zurückkehren. Ich achtete darauf, daß kein Funken Glut im Herd zurückblieb, und machte mich mit Luchs auf den Rückweg. Ich war froh, daß die große Mühe vorbei war, daß Bella und Stier wieder bei Tag auf die Weide konnten und die Melkzeiten eingehalten wurden.
    Tiger empfing uns diesmal nicht mit Geschrei, sondern hockte vergrämt, die Schultern hochgezogen, neben dem Herd und miaute leise und kläglich. Ich streichelte ihn, aber er rührte sich nicht, und als Luchs ihn beschnüffelte,fauchte er böse und gereizt. Später, als meine Arbeit getan war, sah ich, daß er auf drei Pfoten hinkte. Es ist nicht ganz leicht, eine verletzte Katze zu untersuchen, noch dazu einen Kater von Tigers Temperament. Ich legte ihn auf den Rücken und kraulte ihm den Bauch, bis es mir gelang, die Pfote ganz sachte festzuhalten. Er hatte sich einen Dorn oder Holzsplitter in den Ballen getreten. Mindestens zehnmal versuchte ich, ihn mit einer Pinzette zu entfernen. Es glückte mir nur, weil ein Vogel gerade an

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