Die Wand
der Hüttentür vorüberstrich und Tigers Aufmerksamkeit von mir und der Pinzette ablenkte. Die kleine Operation war geglückt. Empört sprang Tiger auf, schlug mir die Pinzette aus der Hand und raste aus der Hütte.
Später sah ich ihn, eifrig die kleine Wunde leckend, auf der Bank sitzen. Eigentlich hatte er sich halbwegs erträglich benommen. Katzen geraten sehr leicht in Panik; jedes raschelnde Papier, jede jähe Bewegung kann sie völlig kopflos machen. Als Einzelgänger müssen sie dauernd auf der Hut und fluchtbereit sein. Hinter jedem harmlos aussehenden Busch, hinter jeder Hausecke kann sich der Feind verborgen halten. Es gibt nur etwas, was in ihnen noch stärker ist als Mißtrauen und Vorsicht, und das ist die Neugierde.
Inzwischen war es dämmrig geworden, und ich kochte das Abendessen. Ich hatte aus dem Jagdhaus das letzte Glas Preiselbeeren mitgenommen und machte Palatschinken ohne Ei. Audi das geht, wenn man sich daran gewöhnt hat. Das Ende der Heuernte schien mir Anlaß für ein solches Fest zu sein. Damals litt ich aber nicht mehr so sehr unter dem Verlangen nach unerreichbaren Genüssen. Die Phantasie wurde nicht mehr von außen angeregt, und die Begierde schlief langsam ein. Ich war schon froh, wenn ich mich und die Tiere sättigen konnteund wir nicht hungern mußten. Auch den Zucker vermißte ich kaum noch. Ich ging in jenem Sommer nur zweimal auf den Himbeerschlag und füllte einen Eimer mit Beeren. Der Weg war mir zu weit und mühsam. Es gab auch weniger Beeren als im ersten Sommer, vielleicht weil es zu trocken gewesen war. Die Früchte waren klein und sehr süß. Ich sah, daß der Schlag anfing zuzuwachsen. In wenigen Jahren wird er ganz von Unterholz bedeckt sein, das die Himbeersträucher erstickt hat.
Nach der Heuernte blieb ich schön ruhig zu Hause und saß viel auf der Bank. Ich war müde und ein wenig erschöpft, und der geheimnisvolle Zauber begann aufs neue, mich einzuspinnen. Meine Tage verliefen nun sehr regelmäßig. Um sechs Uhr stand ich auf, molk Bella und ließ sie und Stier auf die Weide. Dann reinigte ich den Stall, trug die Milch in die Hütte und leerte sie in der Kammer in das irdene Milchgeschirr, damit der Rahm sich an der Oberfläche absetzen konnte. Dann frühstückte ich und fütterte Luchs und Tiger. Luchs bekam sein Fressen am Morgen, Tiger nur Milch. Aus irgendeinem Grund, vielleicht weil er ein Nachttier war, wollte Tiger am Abend fressen. Am Abend bekam dann Luchs seine Milch. Dann folgten Tigers Morgenspiele: Abfangen rund um die Hütte. Ich mußte mich manchmal dazu zwingen, aber es tat mir ganz gut, und Tiger brauchte es zu seinem Wohlbefinden. Das Spiel hatte strenge Regeln, die alle Tiger erfunden und festgesetzt hatte. Es mußte immer in derselben Richtung erfolgen, und immer wurden die gleichen Verstecke gewählt. Die Hausecke, ein altes Regenfass, ein Stapel Fallholz, ein größerer Stein, eine Hausecke und ein alter Hackstock. Tiger sauste um die Ecke, und ich mußte mich dumm stellen und ihn klagend und aufgeregt suchen. Ich durfte nicht sehen, wie er um die Ecke lugte, bis er endlich miteinem wilden Satz auf meine Beine losfuhr. Dann kam das Regenfass, an dem ich blind vorbeitappen mußte und kräftig, aber nicht zu schmerzlich gebissen, aufheulen durfte, während Tiger mit auf gestelltem Schwanz hinter dem Holzstoß verschwand, den ich lange umkreisen mußte, weil ich den kleinen Kater in seiner Schutzfarbe einfach nicht sehen konnte, bis er wie ein Pferd auf Zehenspitzen seitlich angetänzelt kam und einen riesigen Buckel machte. Alles lief darauf hinaus, daß er, ein stolzes, kluges Raubtier, einen dummen, lächerlichen Menschen in Schrecken versetzte. Da der dumme Mensch aber auch der angenehme und geliebte Mensch war, wurde er nicht aufgefressen, sondern nach dem Spiel zärtlich abgeschleckt. Vielleicht hätte ich diese Spiele nicht mit ihm spielen dürfen. Möglicherweise hat sich dadurch in ihm eine Art von Größenwahn gebildet, der ihn unvorsichtig gegen jede wirkliche Gefahr machte. Tiger hätte das Spiel fünfzig Runden durchgestanden, bei mir reichte es höchstens für zehn. Immerhin war er daraufhin so weit befriedigt, daß er in den Kasten ging, um wieder ein wenig zu schlafen. Anfangs hätte Luchs gerne mitgespielt und umkreiste uns mit Gebell und täppischen Sprüngen. Er wurde aber von Tiger scharf zurechtgewiesen und verfolgte das Spiel nur noch von ferne mit zuckendem Schwanz und lautem Japsen. Nur wenn ich keine Zeit hatte und
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