Die Wand
benützte die Kräuter wie ein Opiumsüchtiger das Rauschgift. Seine Räusche hatten allerdings keine bösen Folgen für ihn. Wenn die Sonne gesunken war, führte ich Bella und Stier in den Stall und tat meine gewohnte Arbeit. Das Nachtmahl fiel meist recht ärmlich aus und bestand aus Resten von mittags und einem Glas Milch. Nur wenn ich ein Stück Wild geschossen hatte, lebten wir einige Tage äußerst üppig, bis ich mich vor jedem Fleisch ekelte. Ich hatte ja weder Brot noch Erdäpfel dazu, das Mehl mußte ich sparen für die Tage, an denen es kein Fleisch mehr gab.
Dann setzte ich mich auf die Bank und wartete. Die Wiese schlief langsam ein, die Sterne traten hervor, und später stieg der Mond hoch und tauchte die Wiese in sein kaltes Licht. Auf diese Stunden wartete ich den ganzen Tag voll heimlicher Ungeduld. Es waren die einzigen Stunden, in denen ich fähig war, ganz ohne Illusionen und mit großer Klarheit zu denken. Ich suchte nicht mehr nach einem Sinn, der mir das Leben erträglicher machen sollte. Ein derartiges Verlangen erschien mir fast wie eine Anmaßung. Die Menschen hatten ihre eigenen Spiele gespielt, und sie waren fast immer übel ausgegangen. Worüber sollte ich mich beklagen; ich war einer von ihnen und konnte sie nicht verurteilen, weil ich sie so gut verstand. Es war besser, von den Menschen wegzudenken.Das große Sonne-, Mond- und Sterne-Spiel schien gelungen zu sein, es war auch nicht von Menschen erfunden worden. Aber es war noch nicht zu Ende gespielt und mochte den Keim des Mißlingens in sich tragen. Ich war nur ein aufmerksamer und bezauberter Zuschauer, aber mein ganzes Leben hätte nicht ausgereicht, um auch nur die winzigste Phase des Spieles zu überblicken. Den größten Teil meines Lebens hatte ich damit zugebracht, mich mit den täglichen Menschensorgen herumzuschlagen. Nun, da ich fast nichts mehr besaß, durfte ich in Frieden auf der Bank sitzen und den Sternen zusehen, wie sie auf dem schwarzen Firmament tanzten. Ich hatte mich so weit von mir entfernt, wie es einem Menschen möglich ist, und ich wußte, daß dieser Zustand nicht anhalten durfte, wenn ich am Leben bleiben wollte. Schon damals dachte ich manchmal, daß ich später nicht verstehen würde, was auf der Alm über mich gekommen war. Ich begriff, daß alles, was ich bis dahin gedacht und getan hatte, oder fast alles, nur ein Abklatsch gewesen war. Andere Menschen hatten mir vorgedacht und vorgetan. Ich mußte nur ihrer Spur folgen. Die Stunden auf der Bank vor der Hütte waren Wirklichkeit, eine Erfahrung, die ich persönlich machte, und doch nicht vollkommen. Fast immer waren die Gedanken schneller als die Augen und verfälschten das wahre Bild.
Nach dem Erwachen, wenn der Geist noch vom Schlaf gelähmt ist, sehe ich manchmal Dinge, ehe ich sie einordnen und wiedererkennen kann. Der Eindruck ist beängstigend und drohend. Erst das Erkennen verwandelt den Sessel mit meinen Kleidern in einen vertrauten Gegenstand. Eben noch war er etwas unsagbar Fremdes und machte mir Herzklopfen. Ich befaßte mich nicht sehr oft mit diesen Versuchen, aber es war auch nicht merkwürdig,daß ich es überhaupt tat. Es gab ja nichts, was mich ablenken und geistig beschäftigen konnte, keine Bücher, keine Gespräche, keine Musik; nichts. Seit meiner Kindheit hatte ich es verlernt, die Dinge mit eigenen Augen zu sehen, und ich hatte vergessen, daß die Welt einmal jung, unberührt und sehr schön und schrecklich gewesen war. Ich konnte nicht mehr zurückfinden, ich war ja kein Kind mehr und nicht mehr fähig, zu erleben wie ein Kind, aber die Einsamkeit brachte mich dazu, für Augenblicke ohne Erinnerung und Bewußtsein noch einmal den großen Glanz des Lebens zu sehen. Vielleicht leben die Tiere bis zu ihrem Tod in einer Welt des Schreckens und Entzückens. Sie können nicht fliehen und müssen die Wirklichkeit bis zu ihrem Ende ertragen. Selbst ihr Tod ist ohne Trost und Hoffnung, ein wirklicher Tod. Auch ich war, wie alle Menschen, immer auf der eiligen Flucht und immer in Tagträumen befangen. Weil ich den Tod meiner Kinder nicht gesehen hatte, bildete ich mir ein, sie wären noch am Leben. Aber ich sah, wie Luchs erschlagen wurde, ich sah das Hirn aus Stiers gespaltenem Schädel quellen, und ich sah, wie Perle sich wie ein Ding ohne Knochen dahinschleppte und verblutete, und immer wieder fühlte ich das warme Herz der Rehe in meinen Händen erkalten.
Das war die Wirklichkeit. Weil ich das alles gesehen und gespürt habe, fällt
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