Die Wand
nicht mehr die Kraft, mir zu sagen, daß es nicht wirklich wäre. Es war sehr wirklich, und Vernunft und Ordnung zählten nicht länger. Gegen Morgen sprang die Katze auf mein Bett und befreite mich von dem schrecklichen Zustand. Mit einem Schlag löste sich die ganze Verwirrung in Nichts auf, und ich schlief endlich ein.
Am Morgen war der Himmel schwarz verhangen; der fauchende Wind hatte sich gelegt, aber unter der Wolkendecke blieb es brütend warm. Der Tag kroch dahin, und die Luft war zäh und feucht und legte sich schwer auf die Lungen. Tiger war nicht nach Hause gekommen. Luchs schlich traurig umher. Er litt nicht so sehr unter dem Föhn wie unter meiner schlechten Stimmung, die mich von ihm entfernte und unansprechbar machte. Ich tat meine Arbeit im Stall und mußte Bella erst aufjagen, ehe ich sie melken konnte. Auch Stier war merkwürdig unruhig und widerspenstig. Nach der Arbeit legte ich mich auf mein Bett. Ich hatte ja nachts kaum geschlafen. Fenster und Tür standen offen, und Luchs ließ sich auf der Schwelle nieder, um meinen Schlaf zu bewachen. Ich schlief auch wirklich ein und fand mich in einem lebhaften Traum.
Ich war in einem saalartigen sehr hellen Raum, der ganz in Weiß und Gold gehalten war. Prächtige Barockmöbel standen an den Wänden, und der Boden war mit kostbaren Parketten ausgelegt. Als ich aus dem Fenster sah, erblickte ich einen kleinen Pavillon in einem französischen Park. Irgendwo spielte man die Kleine Nachtmusik.Plötzlich wußte ich, daß es dies alles nicht mehr gab. Das Gefühl, einen schrecklichen Verlust erlitten zu haben, überfiel mich mit Gewalt. Ich preßte die Hände auf den Mund, um nicht zu schreien. Da erlosch das helle Licht, das Gold versank in Dämmerung, und die Musik ging in monotones Trommeln über. Ich erwachte. Der Regen schlug gegen die Scheiben. Ich blieb ganz ruhig auf dem Bett liegen und lauschte. Die Kleine Nachtmusik hatte sich im Regen versteckt, und ich konnte sie nicht wiederfinden. Es war wie ein Wunder, daß mein schlafendes Hirn eine vergangene Welt zu neuem Leben erweckt hatte. Ich konnte es noch immer nicht fassen.
An jenem Abend waren wir alle wie erlöst von einem Alpdruck. Tiger kam durch die Katzentür gekrochen, zerzaust, das Fell von Erde und Nadeln bedeckt, aber erlöst von seinem Wahn. Er schrie sich seine Angst vom Leib und kroch, nachdem er Milch getrunken hatte, erschöpft in den Kasten. Die alte Katze ließ sich gnädig von mir streicheln, und Luchs kroch auf sein Lager, als er sich von meiner Rückwandlung in sein vertrautes Menschenwesen überzeugt hatte. Ich legte mein altes Kartenspiel und lauschte beim Schein der Lampe dem Regen, der gegen die Läden schlug. Dann stellte ich einen Eimer unter die Dachtraufe, um Wasser zum Haarwaschen aufzufangen, ging in den Stall, um zu füttern und zu melken, und dann legte ich mich nieder und schlief tief bis zum kühlen Regenmorgen. Die nächsten Tage, es regnete ruhig und beständig weiter, blieb ich im Haus. Ich hatte mein Haar gewaschen, und es flog mir jetzt leicht und gebauscht um den Kopf. Vom Regenwasser war es weich und glatt geworden. Vor dem Spiegel schnitt ich es kurz, daß es gerade die Ohren bedeckte, und betrachtete mein gebräuntes Gesicht unter der sonnengebleichten Haarkappe. Es sah ganz fremd aus, mager,mit leichten Höhlungen in den Wangen. Die Lippen waren schmaler geworden, und ich fand dieses fremde Gesicht von einem heimlichen Mangel gezeichnet. Da kein Mensch mehr lebte, der dieses Gesicht hätte lieben können, schien es mir ganz überflüssig. Es war nackt und armselig, und ich schämte mich seiner und wollte nichts mit ihm zu tun haben. Meine Tiere hingen an meinem vertrauten Geruch, an meiner Stimme und an gewissen Bewegungen. Ich konnte mein Gesicht ruhig ablegen, es wurde nicht mehr gebraucht. Dieser Gedanke ließ ein Gefühl der Leere in mir aufkommen, das ich unbedingt loswerden mußte. Ich suchte mir irgendeine Arbeit und sagte mir, daß es in meiner Lage kindisch wäre, um ein Gesicht zu trauern, aber das quälende Gefühl, etwas Wichtiges verloren zu haben, ließ sich nicht verscheuchen.
Am vierten Tag fing der Regen an, lästig zu werden, und ich fand mich undankbar, wenn ich an die Erlösung dachte, die er uns nach dem Föhn gebracht hatte. Aber es ließ sich einfach nicht leugnen, ich hatte bis zum Hals genug davon, und meine Tiere waren ganz meiner Meinung. Darin waren wir einander sehr ähnlich. Wir wünschten uns windstilles heiteres Wetter und
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