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Die Wand

Titel: Die Wand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlen Haushofer
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wunderbar, auch wenn sie noch ein wenig fest waren. Ich legte sie in der Kammer auf und achtete darauf, daß sie einander nicht berührten. Die mit den Druckflecken legte ich in die erste Reihe, zum raschen Verbrauch bestimmt. Sie sahen sehr hübsch aus, grasgrün, mit feuerroten scharf abgesetzten Backen, wie der Apfel in der Geschichte von Schneewittchen.
    An die Märchen erinnerte ich mich noch sehr genau, aber sonst hatte ich sehr viel vergessen. Da ich ohnedies nicht viel gewußt hatte, blieb nur wenig Wissen übrig. Namen lebten in meinem Kopf und ich wußte nicht mehr, wann ihre Träger gelebt hatten. Ich hatte immer nur für die Prüfungen gelernt, und später hatten mir die Lexika im Rücken ein Gefühl der Sicherheit gegeben. Jetzt, ohne diese Hilfen, herrschte in meinem Gedächtnis ein furchtbares Durcheinander. Manchmal fielen mir Gedichtzeilen ein, und ich wußte nicht, von wem sie stammten, dann packte mich das quälende Verlangen, in die nächste Bibliothek zu gehen und Bücher zu holen. Es tröstete mich ein wenig, daß es die Bücher noch geben mußte und ich sie mir eines Tages beschaffen würde. Heute weiß ich, daß es dann zu spät sein wird. Ich könnte selbst in normalen Zeiten nicht lange genug leben, um alle Lücken aufzufüllen. Ich weiß auch nicht, ob mein Kopf sich diese Dinge noch merken könnte. Ich werde, wenn ich je hier herauskommen sollte, alle Bücher, dieich finde, liebevoll und sehnsüchtig streicheln, aber ich werde sie nicht mehr lesen. Solange ich lebe, werde ich alle Kraft dazu brauchen, mich und die Tiere am Leben zu erhalten. Ich werde nie eine wirklich gebildete Frau sein, damit muß ich mich abfinden.
    Die Sonne schien noch immer, aber es wurde von Tag zu Tag ein wenig kühler, und am Morgen lag manchmal ein Hauch von Reif. Die Bohnenernte war sehr gut ausgefallen, und jetzt war es an der Zeit, die Preiselbeeren von der Alm zu holen. Ich stieg sehr ungern auf die Alm, aber ich glaubte, auf die Beeren nicht verzichten zu können. Die Almwiese lag still und verzaubert unter dem blassen Oktoberhimmel. Ich besuchte den Aussichtspunkt und sah über das Land hin. Die Fernsicht war besser als im Sommer, und ich entdeckte einen winzigen roten Kirchturm, den ich nie zuvor gesehen hatte. Die Wiesen waren jetzt gelb, mit einem bräunlichen Hauch darüber, dem Meer der reifen Samen. Und dazwischen lagen die rechteckigen und quadratischen Flächen, die einmal Getreidefelder gewesen waren. In diesem Jahr waren sie schon zerfressen von großen grünlichen Flecken, dem wuchernden Unkraut. Ein Paradies für Spatzen. Nur, es gab dort keinen einzigen kleinen Spatzen mehr. Sie lagen wie Spielzeugvögel im Gras, schon halb in der Erde versunken. Ich hatte den Ort ohne Hoffnung betreten und doch, als ich das alles sah, keine Rauchwolke, nicht die kleinste Spur von Leben, überfiel mich wieder tiefe Niedergeschlagenheit. Luchs wurde aufmerksam und drängte mich, weiterzugehen. Es war auch viel zu kühl, um lange sitzen zu bleiben. Ich pflückte drei Stunden lang Beeren. Es war eine lästige Arbeit. Meine Hände hatten ganz verlernt, mit so kleinen Dingen umzugehen, und waren sehr ungeschickt. Endlich hatte ich meinen Eimer gefüllt, setzte mich auf die Bank vor der Hütte und trank heißenTee. Die Wiese zeigte große Flecken, wo sie abgegrast und wieder nachgewachsen war. Das Gras war schon gelblich und ein wenig saftlos. Dort und da stand ein lilafarbener niedriger Büschelenzian. Er sah aus, als wären seine Blüten aus zarter alter Seide geschnitten. Ein kränkliches Herbstgewächs. Ich sah auch den Bussard wieder kreisen und jäh in den Wald niederstoßen. Das Gefühl überkam mich, daß es besser war, für immer von der Alm wegzubleiben.
    Ich mag nicht, wenn man mich überfällt, und setzte mich sofort zur Wehr. Es gab keinen vernünftigen Grund, warum ich der Alm fernbleiben sollte, und ich schob das Unlustgefühl auf die Furcht vor der beschwerlichen Übersiedlung. Aber ich konnte auf meine Trägheit keine Rücksicht nehmen, alles war längst beschlossen und für gut befunden. Und doch, ich fröstelte beim Anblick der gelben Wiese, der gleißenden Felsen und des kränklichen Enzians. Das plötzliche Gefühl einer großen Einsamkeit, Leere und Helle, ließ mich aufstehen und die Alm fast fluchtartig verlassen. Schon auf dem vertrauten Waldpfad schien mir alles sehr unwirklich. Es wurde rasch kalt, und Luchs drängte heim in die warme Hütte.
    Am folgenden Tag kochte ich die Beeren ein und

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