Die Wand
auch unter seinem Schutz standen, etwa wie die Krähen, die uns seit Ende Oktober wieder täglich besuchten.
Damals fingen meine Beine plötzlich an nachzulassen und schmerzten, besonders im Bett, empfindlich. Die übermäßige Anstrengung machte sich bemerkbar, und in Zukunft sollte daraus ein dauerndes Leiden werden.
Am zehnten Dezember finde ich eine seltsame Notiz: »Die Zeit vergeht so schnell.« Ich erinnere mich nicht, sie geschrieben zu haben. Ich weiß nicht, was sich an jenem zehnten Dezember ereignete und mich dazu brachte, unter »Bella bei Stier«, »Neuschnee«, »Heu geholt« zu schreiben: »Die Zeit vergeht so schnell.« Verging damals die Zeit wirklich besonders schnell? Ich kann mich nicht erinnern und kann darüber gar nichts berichten. Es stimmt auch gar nicht. Die Zeit schien nur mir schnell zuvergehen. Ich glaube, die Zeit steht ganz still und ich bewege mich in ihr, manchmal langsam und manchmal mit rasender Schnelligkeit.
Seit Luchs tot ist, empfinde ich das deutlich. Ich sitze am Tisch, und die Zeit steht still. Ich kann sie nicht sehen, nicht riechen und nicht hören, aber sie umgibt mich von allen Seiten. Ihre Stille und Unbewegtheit ist schrecklich. Ich springe auf, laufe aus dem Haus und versuche, ihr zu entrinnen. Ich tue etwas, die Dinge treiben voran, und ich vergesse die Zeit. Und dann, ganz plötzlich, ist sie wieder um mich. Vielleicht stehe ich vor dem Haus und schaue hinüber zu den Krähen, und da ist sie wieder, körperlos und still und hält uns fest, die Wiese, die Krähen und mich. Ich werde mich an sie gewöhnen müssen, an ihre Gleichgültigkeit und Allgegenwart. Sie dehnt sich aus in die Unendlichkeit wie ein riesiges Spinnennetz. Milliarden winziger Kokons hängen in ihren Fäden eingesponnen, eine Eidechse, die in der Sonne liegt, ein brennendes Haus, ein sterbender Soldat, alles Tote und alles Lebende. Die Zeit ist groß, und immer noch gibt es Raum in ihr für neue Kokons. Ein graues unerbittliches Netz, in dem jede Sekunde meines Lebens festgehalten liegt. Vielleicht erscheint sie mir deshalb so schrecklich, weil sie alles aufbewahrt und nichts wirklich enden läßt.
Wenn die Zeit aber nur in meinem Kopf existiert und ich der letzte Mensch bin, wird sie mit meinem Tod enden. Der Gedanke stimmt mich heiter. Ich habe es vielleicht in der Hand, die Zeit zu ermorden. Das große Netz wird reißen und mit seinem traurigen Inhalt in das Vergessen stürzen. Man müßte mir dafür dankbar sein, aber niemand wird nach meinem Tod wissen, daß ich die Zeit ermordet habe. Im Grunde sind diese Gedanken ganz ohne Bedeutung. Die Dinge geschehen eben, und ich suche, wie Millionen Menschen vor mir, in ihneneinen Sinn, weil meine Eitelkeit nicht gestatten will, zuzugeben, daß der ganze Sinn eines Geschehnisses in ihm selbst liegt. Kein Käfer, den ich achtlos zertrete, wird in diesem, für ihn traurigen Ereignis einen geheimnisvollen Zusammenhang von universeller Bedeutung sehen. Er war in dem Augenblick unter meinem Fuß, als ich niedertrat; Wohlbehagen im Licht, ein kurzer schriller Schmerz und Nichts. Nur wir sind dazu verurteilt, einer Bedeutung nachzujagen, die es nicht geben kann. Ich weiß nicht, ob ich mich jemals mit dieser Erkenntnis abfinden werde. Es ist schwer, einen uralten eingefleischten Größenwahn abzulegen. Ich bedaure die Tiere, und ich bedaure die Menschen, weil sie ungefragt in dieses Leben geworfen werden. Vielleicht sind die Menschen bedauernswerter, denn sie besitzen genausoviel Verstand, um sich gegen den natürlichen Ablauf der Dinge zu wehren. Das hat sie böse und verzweifelt werden lassen und wenig liebenswert. Dabei wäre es möglich gewesen, anders zu leben. Es gibt keine vernünftigere Regung als Liebe. Sie macht dem Liebenden und dem Geliebten das Leben erträglicher. Nur, wir hätten rechtzeitig erkennen sollen, daß dies unsere einzige Möglichkeit war, unsere einzige Hoffnung auf ein besseres Leben. Für ein unendliches Heer von Toten ist die einzige Möglichkeit des Menschen für immer vertan. Immer wieder muß ich daran denken. Ich kann nicht verstehen, warum wir den falschen Weg einschlagen mußten. Ich weiß nur, daß es zu spät ist.
Nach dem zehnten Dezember schneite es eine Woche still und gleichmäßig. Das Wetter war ganz nach meinem Wunsch, windstill und beruhigend. Nichts stimmt mich friedlicher als das lautlose Niedersinken der Flocken oder ein Sommerregen nach einem Gewitter. Manchmal färbte sich der grauweiße Himmel an einer
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