Die Wand
Meinung zu sein, und das beruhigte mich ein wenig. Nach drei Wochen brüllte sie schon wieder, und das schreckliche Schauspiel wiederholte sich. Als sich auch dann kein Erfolg zeigte, wußte ich überhaupt nicht, was ich tun sollte. Vielleicht durfte Stier sich noch gar nicht auf diese Weise betätigen. Ich beschloß, noch einige Monate zuzuwarten. Früher hatte ich Bellas Gebrüll leichter ertragen, jetzt, da ich es befriedigen hätte können, war es nicht anzuhören. Ich mußte jedesmal mit Luchs möglichst weit weg in den Wald gehen. Außerdem befand sich Stier in schrecklicher Erregung, und ich wagte mich kaum in den Stall. In den Zwischenzeiten verwandelte er sich wieder in ein großes gutartiges Kalb und war verspielt und zärtlich zu mir. Oft genug verfluchte ich in den folgenden Monaten den Kreislauf von Zeugen und Gebären, der meinen friedlichen Mutter-Kind-Stall in eine Hölle der Einsamkeit und des anfallsweisen Wahnsinns verwandelt hatte.
Jetzt brüllt Bella schon lange nicht mehr. Entweder erwartet sie wirklich ein Kalb, oder sie hat aufgehört, fruchtbar zu sein, und es ist ihr nichts geblieben als die laue Wärme des Stalles, Fressen, Wiederkäuen und manchmal eine dumpfe Erinnerung, die langsam abstirbt. Nach allem, was wir gemeinsam erlebt haben, ist Bella mehr als meine Kuh geworden, eine arme geduldige Schwester, die ihr Los mit mehr Würde trägt als ich. Wirklich, ich wünsche ihr ein Kalb. Es würde die Zeit meiner Gefangenschaft verlängern und mir neue Sorgen aufbürden, aber Bella soll ihr Kalb haben und glücklich sein, und ich werde nicht fragen, ob es in meine Pläne paßt.
Der November und der Dezemberbeginn waren ganz ausgefüllt mit der Arbeit am neuen Stall und den Aufregungen über Stier und Bella. Von Winterruhe konnte keine Rede sein. Ich habe Tiere immer gern gemocht, auf die leichte, oberflächliche Weise, in der Stadtmenschen sich zu ihnen hingezogen fühlen. Da ich plötzlich nur noch auf sie angewiesen war, änderte sich alles. Es soll Gefangene gegeben haben, die Ratten, Spinnen und Fliegen zähmten und anfingen, sie zu lieben. Ich glaube, sie verhielten sich ihrer Lage angemessen. Die Schranken zwischen Tier und Mensch fallen sehr leicht. Wir sind von einer einzigen großen Familie, und wenn wir einsam und unglücklich sind, nehmen wir auch die Freundschaft unserer entfernten Vettern gern entgegen. Sie leiden wie ich, wenn ihnen ein Schmerz zugefügt wird, und wie ich brauchen sie Nahrung, Wärme und ein bißchen Zärtlichkeit.
Übrigens hat meine Zuneigung sehr wenig mit Einsicht zu tun. Im Traum bringe ich Kinder zur Welt, und es sind nicht nur Menschenkinder, es gibt unter ihnen Katzen, Hunde, Kälber, Bären und ganz fremdartige pelzige Geschöpfe. Aber alle brechen sie aus mir hervor, und es ist nichts an ihnen, was mich erschrecken oder abstoßen könnte. Es sieht nur befremdend aus, wenn ich es niederschreibe, in Menschenschrift und Menschenworten. Vielleicht müßte ich diese Träume mit Kieselsteinen auf grünes Moos zeichnen oder mit einem Stock in den Schnee ritzen. Aber das ist mir noch nicht möglich. Wahrscheinlich werde ich nicht lange genug leben, um so weit verwandelt zu sein. Vielleicht könnte es ein Genie, aber ich bin nur ein einfacher Mensch, der seine Welt verloren hat und auf dem Weg ist, eine neue Welt zu finden. Dieser Weg ist schmerzlich und noch lange nicht zu Ende.
Am sechsten Dezember fiel der erste Schnee, von Luchsfreudig begrüßt, von der Katze abgelehnt und von Tiger mit kindlicher Neugierde bestaunt. Offenbar hielt er ihn für eine Spielart der weißen Papierbällchen und näherte sich ihm voll Zuversicht. Auch Perle hatte sich so verhalten, nur vorsichtiger und weniger temperamentvoll. Ihr war keine Zeit geblieben, dazuzulernen. Damals ahnte ich noch nicht, wie wenig Zeit Tiger noch bleiben sollte. Ich ging meiner Arbeit nach wie immer, holte Heu aus dem Stadel und sorgte für frisches Fleisch. Die Rehe schienen das Nahen des Winters zu spüren, denn sie kamen jetzt oft auf die Lichtung und ästen im Morgengrauen oder bei Einbruch der Dämmerung. Ich vermied es, sie hier zu schießen, und suchte die entfernteren alten Wechsel auf. Ich wollte sie nicht von der Waldwiese vertreiben, wo sie im Winter am leichtesten Futter ausscharren konnten. Außerdem beobachtete ich sie gerne. Luchs hatte längst begriffen, daß Rehe auf der Lichtung kein jagdbares Wild waren, sondern eine Art ganz entfernter Hausgenossen, die unter meinem und damit
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