Die Wanderbibel
Produkt der Montessori-Pädagogik, deren Ziel es ja bekanntermaßen ist, das Göttliche im Kind zu erkennen und zu fördern. Aber es war relativ schwierig, selbst mit größter Anstrengung, bei Anselm-Momo auch nur Spuren von Göttlichem zu entdecken. Im Gegenteil: Dieses Kind war – wie sage ich es nett? – der wahrscheinlich verzogenste Balg, der mir je unter die Augen gekommen ist. Nachdem Anselm-Momo Bedienung und Gäste über einen Zeitraum von nahezu dreißig Minuten mit unflätigen Bemerkungen, obszönen Gesten und Schienbeintritten traktiert hatte, erlaubte ich mir dann doch, wenn auch zaghaft (es drohte schon wieder die Kinderhasserecke), bei den Eltern des Satansbratens zart zu protestieren. Ein Protest, der von den Eltern, die sich durch Kleidung, Sprache und unendlichen Sanftmut als stark alternativ angehauchte und sicherlich in sozialen Berufen tätige Akademiker geoutet hatten, eher ungnädig, aber auch mit einer gewissen Resignation zur Kenntnis genommen wurde. Anselm-Momo hatte in dieser Familie offensichtlich schon längst das Zepter übernommen.
Inzwischen hatte Anselm-Momo einem biertrinkenden Bergsteiger heimlich einen Eispickel entwendet und versuchte damit ungeniert, seine kleine Schwester ins Jenseits zu befördern. Was der Herr Papa lediglich mit einem kraftlosen »Du hast uns doch fest versprochen, so was nicht mehr zu machen« zu verhindern suchte.
Eine Bemerkung, die Anselm-Momo wiederum mit einem herzhaften »Halt’s Maul, du schwuler Wichser« kommentierte. Schließlich beendete die Bedienung das Spektakel, indem sie dem kindlichen Beinahemörder zuerst den Pickel wegnahm und ihm dann eine schallende Ohrfeige verpasste. Jetzt war natürlich das Geheul bei Anselm-Momo samt Eltern groß. Hier war offensichtlich eine zarte Kinderseele für alle Zeiten nachhaltig geschädigt worden: Die Eltern schrien nach Genugtuung.
Katharina bot der Bedienung spontan an, sie bei einer etwaigen Klage der Eltern kostenlos zu verteidigen. Andere Gäste wollten an Eides statt bezeugen, dass die Bedienung in Notwehr gehandelt hatte. Anselm-Momo erholte sich übrigens rasch und versuchte dann noch mithilfe eines Prügels ein Mountainbike zu zerlegen.
Da lobt man sich doch das Köln-Porzer Prekariat. Lieber Kevin als Anselm-Momo.
4 Stockenten und Spaßterroristen
Wandern im Schwarzwald
Regel Nummer eins: Am Wochenende wird gewandert. Egal, ob die Schwiegermutter einen platten Fahrradreifen hat oder ob Anja an einem Kater von der gestrigen Betriebsfeier leidet. Wandern heilt alle Wunden und verscheucht die grässlichsten Kater. Manchmal jedenfalls. Und so war ich gnadenlos, ja schamlos und warf meine Frau an diesem schönen Samstag aus dem Bett. Und zwar um halb acht Uhr morgens nach einer Betriebsfeier. Ich solle ver schwinden oder mich dazulegen, aber bloß keine weiteren Anstalten machen. Meine Antwort: »Regel Nummer eins! Ich habe eine hübsche kleine Schwarzwaldwanderung ausgeguckt, die du gut kennst. Den Richard-Massinger-Weg.« Ich könne ihn alleine gehen, lautete ihre Antwort, im Kühlschrank stünden die Reste vom Betriebsfest. Sie wird mich trotzdem lieben, dachte ich, als ich ihr die Bett decke wegriss. »Neiiiin«, schrie sie. Dann rollte sie sich auf die Seite und erhob sich gequält. »Bring mir eine Kopfschmerztablette«, befahl sie, auf der Bettkante sitzend.
Der Nordschwarzwald ist nicht gerade berühmt als Touristen- und Wandermekka, auch wenn dort die kulinarische Hauptstadt Deutschlands liegt, nämlich Baiersbronn, mit seinen drei Sternerestaurants, auch wenn an seinem Nordwestrand die legendäre Bäderstadt Baden-Baden liegt und der einstmals bekannteste Fernwanderweg der Republik, der Westweg, in Pforzheim beginnt und zur Hälfte eben durch den Nordschwarzwald führt. Im Rahmen der Zertifizierung von Wanderwegen und der Wanderforschung hat sich gezeigt: Der Westweg hat an Beliebtheit verloren und landet abgeschlagen in den Rankings der Wissenschaftler klar nach den Saar-Extra touren, dem Rheinsteig, dem Rothaarsteig und dem Renn steig. Als einheimischer Wanderer muss man gestehen: Hier wurde und wird viel falsch gemacht! In unserer Heimatregion geht intensive Waldbewirtschaftung vor Wandertourismus: Einer der schönsten Abschnitte des Westwegs rund um Forbach wurde durch gewaltige Baum erntemaschinen zerstört und zerfurcht, andere Passagen führen ohne jede Aussicht und Abwechslung durch »langweilige« Wälder oder entlang der bei sogenannten »Motorsportlern« extrem beliebten
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