Die Wanderbibel
Schwarzwaldhochstraße – der moderne Wanderer marschiert gerne mal durch einen adretten Mischwald, will dann aber Abwechs lungen wie Aussichtspunkte, Waldrandwege, schmucke Dörfer und kleine Überraschungen erleben. Im Nordschwarzwald ist dies zwar alles reichlich vorhanden. Nur: Man muss sich auskennen, man muss sich selbst attraktive Wege suchen, denn in Sachen Wegführung und Öffentlichkeitsarbeit liegt das meiste im Argen – im Ge gensatz zum allseits bekannten und beliebten Hochschwarz wald rund um den Feldberg.
Nein, wir fuhren nicht mit der Straßenbahn zu unserem Ausgangspunkt am Rande des Nordschwarzwalds, ins idyllische Ettlingen, einer Großen Kreisstadt am Nordwestrand des Schwarzwalds, in dem anständige und wohlgekleidete Bürger eine schmucke Altstadt, quasi ein Spiel zeugstädtchen, restauriert haben. Anja fluchte: Es sei doch angenehmer, mit der Straßenbahn zu fahren, samstags um neun sei doch niemand unterwegs.
»Mit deinem Kater brauchst du ein Aufwärmtraining.«
»Ich habe keinen Kater, das Kopfweh ist fast weg«, entgegnete sie und schimpfte fortan leise vor sich hin. Wir radelten über die flachen Felder nach Ettlingen. Die ersten Hängebauchradler waren unterwegs, einer sogar mit Gerolsteiner-T-Shirt, ein anderer machte Werbung für »Das erste Autohaus mit Pfiff in Thüringen«. Ich überholte sie mit meinem Torpedo-Dreigangrad, auf dem ich schon als Dreijähriger im Kindersitz saß, Anja fluchte, weil mein Testosteronspiegel zu hoch war und ich meinen gut abgehangenen Altersgenossen demonstrieren musste, dass ich noch ein Mann bin. Womöglich hätte ich mich neben Anja legen und doch weitere Anstalten machen sollen.
Wir parkten unsere Fahrräder am Horbachsee, die künstliche Hinterlassenschaft einer Landesgartenschau mit einem Schulzentrum als grauem Hintergrund. Anja schimpfte weiter leise vor sich hin, ich vernahm immer nur die Schimpfwörter, von denen ich die harmlosen (»Arschlöcher« und »Idioten«) in Erinnerung behalten habe.
»Ich will nach Hause«, sagte sie, als wir die Fahrräder anschlossen. Ich wiederholte Regel Nummer eins. »Wir könnten ja zuerst einen Kaffee trinken gehen«, insistierte sie. Ich konterte: »Es ist Mai, im See schwimmen bestimmt kleine Enten.« »Verdammte Enten«, bekam ich zu hören. Nicht einmal mit kleinen, süßen Entchen konnte ich sie locken. Dabei gibt es nichts Entspannenderes, als Enten zu beobachten. Na, das wird ein lustiger Tag, dachte ich und marschierte los. Sie schlich hinter mir her. Am Waldrand wartete ich auf sie, derweil ein Auto hielt. Zwei Jogger stiegen aus und machten dekorativ-demonstrative Dehnübungen. »Weshalb müssen diese Schwachköpfe mit dem Auto bis an den Waldrand fahren, und ich muss zu Fuß gehen?«, rief Anja. »Diese Umweltsäue, diese Sonntagssportler, diese Alibisportler.« Die Alibisportler hörten Anja leider oder zum Glück nicht mehr. Ich für meinen Teil beschloss, zügig und diszipli niert den Kreuzelberg hinaufzusteigen, sie wird sich schon beruhigen.
Der Südwesthang des etwa 400 Meter hohen Buckels war schon gut besonnt, in der Ferne wurde Anja immer kleiner. Ich wartete auf sie an einer Wegkreuzung. Sie keuchte. »Erinnerst du dich noch, als wir das letzte Mal hier wanderten?«, fragte ich sie. Keine Antwort. »Da kamen gerade die ersten Blüten des Huflattichs.« Keine Antwort. »Ein glasklarer Frühlingstag, wir sahen sogar die Pfälzer Berge.« Keine Antwort, sie atmete ruhiger. »Vorhin sind noch mehr Pseudosportler direkt in den Wald gefahren, das hast du gar nicht mitbekommen, diese Luftverpester. Sollen sie doch gleich zu den Yankees nach Amiland rübermachen«, japste sie. »Und wir guckten bis zum Speyerer Dom und sogar zum Melibokus«, lenkte ich weiter ab. Sie fing an nachzudenken. Ein gutes Zeichen, dachte ich, und marschierte weiter.
Seit den großen Stürmen der neunziger Jahre, zuletzt der Sturm »Lothar« am zweiten Weihnachtsfeiertag 1999, die nicht nur die Südwesthänge der Schwarzwaldgipfel entwaldet hatten, war am Kreuzelberg wieder dichtes Strauchwerk gewachsen, aus dem hier und dort einige graue Baumskelette in den Himmel ragten. An einigen steileren Stellen genoss man nach wie vor eine nette Fernsicht. Etwas oberhalb der Rheinebene gelegen, hatten wir diese Wanderung schon im tiefsten Winter unternommen, vorausgesetzt, es lag kein Schnee und die Sonne wärmte zumindest ein klein wenig – »Über Baden lacht die Sonne, über Schwaben die ganze Welt«, erinnerte ich
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