Die Wanderbibel
Weihnachten letzten Jahres habe ich bei ihr sogar zwei Speckröllchen entdecken können, die mit zunehmender Tageslänge jedoch wieder verschwanden. »Das hat etwas Militärisches. Die beiden da vorne marschieren im Stechschritt wie Soldaten«, lästerte Anja weiter, »kein Wunder, dass Nordic Walking bei Deutschen besonders beliebt ist.«
Plötzlich blieb Anja stehen und schaute senkrecht nach oben. »Was ist denn das?« Ich suchte die Baumwipfel und Äste ab. »Man entdeckt beim Wandern die seltsamsten Dinge«, spannte sie mich auf die Folter. Ich erwartete einen Bartgeier, einen verirrten Rennradler oder wenigstens den Karlsruher Oberbürgermeister im Tarzanskostüm. Nichts dergleichen: In etwa zehn Metern Höhe wuchs mitten aus einem Baumstamm ein graues Stromkabel, das einen halben Meter über unseren Köpfen endete.
Für so was hat sie einen Blick, dachte ich, aber die riesige, tausendjährige Linde in Schluttenbach ignorieren. Anja hüpfte, um das Kabel zu erwischen.
»Bist du verrückt, da könnte Saft drauf sein!«, warnte ich sie.
»Meinst du, der Baum steht unter Strom?«
Sie war zu klein, um das Kabel zu erwischen. Wir gingen weiter, diskutierten aber, wie das Kabel wohl in den Baum kommen konnte. Ohne allerdings eine Lösung zu finden.
»Hier machen wir Brotzeit«, bestimmte Anja an der Carl-Schöpf-Hütte. »Schau mal auf die Uhr, hier gibt’s nur Wasser und Schokolade.« Anja nörgelte wieder vor sich hin. Ich verstand nur: »Ich esse, wann ich will, wo ich will, was ich will, so viel ich will, mit wem ich will.« Ich versuchte, ihr die Schönheit der Gegend schmackhaft zu machen, den Blick zum kleinen Kegel des Mahlbergs mit seiner hochkant gestellten Stahlbetonröhre, einem ideal gelegenen Aussichtsturm, den wir heute erreichen wollten. Zumindest ich wollte ihn erreichen. Ich zeigte ihr die blühenden Felder, die knallgelbe Löwenzahnwiese, die kleinen Blümchen zu ihren Füßen. Anja ging in die Hütte, während ich die Schönheit der Natur, den Genuss des Wanderns im Allgemeinen und des Richard-Massinger-Wegs im Besonderen pries und setzte ihren Rucksack ab. Ich lobte die Stille, das ferne Raunen eines Treckers und den tiefblauen Himmel, durch den ein Flugzeug einen Strich zog. »Schau mal, ich habe ein Taschenmesser gefunden«, kam Anja aus der Hütte, mampfte Schokolade und strahlte mich an, »es lag direkt neben dem Abfalleimer.« So kann man auch mit kleinen Dingen unserer Anja Freude bringen, dachte ich.
Ein beliebtes Postkartenmotiv gibt Moosbronn ab, ein kleiner mustergültiger Marien-Wallfahrtsort, bestehend aus einem Maria gewidmeten Kirchlein, zwei, drei Brunnen, vier Bauernhöfen und zwei Restaurants, von denen wir eines aus grundsätzlichen Erwägungen meiden, steht doch neben dem Eingang ein Schild »Bikers welcome«. Es geht übrigens die Mär, dass an einem der wenigen steilen Hänge dieser Gegend einem Bauernknecht die Bremskette seines Fuhrwerks brach. Geholfen hat ihm allein die Anrufung der Gottesmutter. Maria brachte das Gefährt zum Stehen und verdiente sich damit eine kleine hölzerne Kapelle, die im Verlauf der Jahrhunderte wuchs und gedieh. Außerdem steht in der Mitte des Dorfes ein Grenzstein: Bis ins Jahr 1971 war Moosbronn geteilt, die östliche Hälfte gehörte zu Württemberg, die westliche zu Baden. Ganz in der Nähe findet sich auch die badische Wespentaille: Bis zur Grenze nach Frankreich am Rhein sind es nur 17,2 Kilometer. Dem ehemaligen badisch-schwäbischen Grenzverlauf folgt der »Historische Grenzweg« mit seinen zahlreichen sehenswerten Grenzmarkierungen und Informationstafeln. Etwas länger als elf Kilometer ist der Weg; er ist einer der unzähligen thematisch orientierten Wanderwege Deutsch lands, die in den letzten Jahren wie die Pilze aus dem Boden geschossen sind. Die Harz-Touristik wirbt etwa mit dem Harzer-Hexen-Stieg, dem Karstwanderweg oder dem Harzer Grenzweg, im mittleren Schwarzwald kann man auf den Spuren des Dichters Heinrich Hansjakob wandeln, im Saarland ist es der Haldenrundweg, bei dem der bildungshungrige Wanderer einiges über den Bergbau lernen kann. Wobei wir leise Zweifel haben, ob Wan derer die vielen Informationstafeln überhaupt lesen – wer etwas lernen möchte, geht normalerweise ins Museum oder kauft sich ein Buch. Gelegentlich legen auch Mitbürger mit sehr speziellen, eigenen Interessen Pfade mit Informationstafeln an. Am Ende der ersten Etappe des Westweges von Pforzheim nach Basel etwa, kurz vor dem Höhenkurort
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