Die Wanderbibel
mich an ein Bonmot, welches den Zwist der beiden zwangsvereinigten Landesteile illustriert. Hinter mir bekam Anja einen Hustenanfall und fluchte. Sie röchelte: »Ist der Melibokus im Odenwald?«
Schluttenbach ist ein Höhenortsteil von Ettlingen, ein größeres Dorf. Wir lieben es, durch die Dörfer zu flanieren, in denen samstags ältere Bäuerinnen Unkraut zupfen, Blaumänner ihre Garagentore abschleifen, Großväter ihre Enkel auf dem Trecker spazieren fahren und Vorgärten mit Rabatten locken. Einmal mussten wir ein verirrtes, aber ansonsten glückliches, weil freilaufendes Huhn vom Parkplatz eines Restaurants zurück zum Bauernhof bugsieren. Wenn die Wälder im Vorfrühling noch kahl und grau sind, wenn auf den Nordseiten noch Schnee liegt und der Wind über die Tausender pfeift, erblühen die Vorgärten der Dörfer, Vor- und Kleinstädte sind in voller Pracht. Und zwar nur für uns Wanderer, uns faules Gesindel, das am Samstag kein Auto putzt, keinen Baumarkt aufsucht, keine Tomatensetzlinge im Schrebergarten gießt und auch keine verblühten Stiefmütterchen abzupft. Nur für uns haben die fleißigen Mitbürger ihre Beete, Blumenkästen, Schalen und Ampeln angelegt. Wir bleiben davor stehen, zeigen uns wie verliebte Teenager romantisch die Krokusse, Osterglocken, Tulpen, Stiefmütterchen und Gänseblümchen. Dass die Rabatten nur für uns angelegt sind, bewies ein Garten in Dennach, ebenfalls im Nordschwarzwald: Ein pflichtbewusster Held der Gartenarbeit brachte an jedem seiner exotischen Blümchen ein Schild an mit den exakten botanischen Bezeichnungen, deutsch und lateinisch: Kriechendes Gipskraut, Dunkler Mauerpfeffer, Wohlriechender Händelwurz und Halbkugelige Rapunzeln. Dazwischen saßen turtelnde Keramikenten, auf dem Dachgiebel turnte ein ziegelroter Schlafwandler, der gleich abzustürzen drohte. Allenthalben fanden wir in diesem Dorf lustige, selbst gebastelte Schilder. In einem besonders aseptischen Neubaugebiet hatten Anwohner ein Piktogramm mit Schleudergefahr für Autos ausgedruckt, darunter eine Weinbergschnecke gezeichnet und das ganze laminiert; an einem Mäuerchen lasen wir »Bitte hier kein Hundekot ablegen«. Vor einer Bäckerei war ein Aufsteller angekettet. Auf einer Seite klemmte die aktuelle Bildzeitung, auf der anderen Seite stand mit Kreide geschrieben. »Coffee to go. Hier auch zum Mitnehmen.« Was mindestens genauso lustig ist wie der Aufsteller vor einem Café in Vorarlberg, in dem man sich eine »Morgenlatte« bestellen konnte.
»Ich kann nicht mehr«, stöhnte Anja fast schon lustvoll, als wir Schluttenbach hinter uns gelassen hatten, wieder in den Wald einbogen und die ersten Stockenten in Sichtweite kamen. Ich ignorierte meine Frau und wusste zugleich genau, was sie dachte. Anja war nun in einer ersten Phase der Entspannung, in der sie nicht mehr fluchte, sondern sich lustig machte. Stockenten also. Sie blieb kurz stehen und sah ihnen hinterher: Generell sind Stockenten gesellig, sie treten oft paarweise auf und haben eine auffällig gerundete Körpermitte. Gerne stöckeln sie am späten Vormittag durch Parkanlagen, ob mit oder ohne Teich spielt keine Rolle. Stockenten führen Nordic-Walking-Stöcke vom Aldi, Norma oder Lidl mit sich und sind sportlich gekleidet. Darin unterscheiden sie sich von den meisten älteren Wanderern, die bevorzugt in khakifarbenen Hosen und Jacken (»Alters-Khaki«) sowie karierten Hemden auftreten, wobei das schmalste an ihnen die Rucksäcke sind. Stockenten sind mit aufrechter Haltung unterwegs mit einer Geschwindigkeit von bis zu fünf Kilometern pro Stunde. Sie drehen mit heiligem Ernst ihre Runden, lächeln nie, erzählen sich keine Witze und sind bis zu zwei Stunden auf den Beinen. Über Nordic Walker machen sich gerne deutsche Kabarettisten lustig, was diese an der Ernsthaftigkeit ihrer Beschäftigung nicht zweifeln lässt, auch wenn sie ihre Stöcke nur hinter sich herschleifen.
Anja hatte ihre Schritte beschleunigt, sie konnte also doch noch. »Hast du schon mal versucht, einem Nordic Walker direkt in die Augen zu sehen?«, fragte sie. Richtig geraten: Anja war entspannter. »Die gucken dich nicht an. Du wirst nie mit einem Nordic Walker ins Gespräch kommen, nie wirst du ihnen empfehlen können, mit einem Rucksack auf dem Rücken zwei Stunden früher loszulaufen.« Anja würde ihnen gerne von ihrer Noisette-Tiramisu-Cola-Pommes-Diät erzählen, mit der es ihr am Ende der Bergsaison gelingt, sich drei Kilo aufzufuttern. Kurz nach
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