Die Wanderhure
der Burgherrin, ohne ihr in die Augen zu sehen.
»Es wird Zeit, mich zu verabschieden, Herrin.«
»Wie du willst«, antwortete die Burgherrin verdrossen. »Deinen Lohn hast du bereits erhalten. Nimm meinen Dank für die Hilfe, die du mir geleistet hast, und meine besten Wünsche dazu. Ich werde auf der Wallfahrt nach Einsiedeln auch für deine Seele beten.«
Marie knickste noch einmal, drehte sich dann abrupt um und wanderte langsam durch den Wohnturm, hinab in die große Halle und durch das innere Tor hinaus in den inneren Zwinger, in dem Hiltrud auf sie wartete. Dabei verabschiedete sie sich von dem Ort, der sie für ein paar erlebnisreiche Monate beherbergt hatte. Sie hatte viel erfahren, von dem sie hoffte, dass es ihr in Zukunft noch einmal nützlich sein konnte, und in ihrem Beutel am Gürtel trug sie die Belohnung, die Frau Mechthild ihr für ihre Dienste gegeben hatte.
Die Herrin war nicht so großzügig gewesen, wie sie es sich vorgestellt hatte. Das mochte an dem Angebot liegen, das sie ihr eben gemacht hatte, oder auch daran, dass der Graf von Württemberg, dessen Bettgefährtin sie zwei Wochen lang gewesen war, sie vor aller Augen reich belohnt hatte. Seine Goldmünzen trug sie in einem weiteren Beutel tief unter ihrer Kleidung versteckt. Die Summe, die sie nun besaß, reichte noch nicht, um einen Meuchelmörder für einen so hohen Herrn wie Ruppertus Splendidus anwerben zu können. Für die Schurken, die sie vergewaltigt hatten,war es jedoch schon genug. Aber wenn sie die Kerle zuerst umbringen ließ, wäre Ruppert gewarnt. Das wollte sie nicht riskieren.
Sie sah Hiltrud in ihrem neuen Kleid neben ihrem Wagen stehen und eifrig auf Thomas einreden. Anders als nach den vorherigen Überwinterungen glänzten ihre Wangen, und sie wirkte wohlgenährt. Vom Standpunkt einer Wanderhure aus hatte sich dieser Winter gelohnt. Sie besaßen neue Kleider, Mäntel und einige andere Wäschestücke, und sie hatten weder die Miete für eine Hütte noch Geld für Lebensmittel ausgeben müssen. Stattdessen hatten sie einige höchst angenehme Monate verbracht und dabei noch gut verdient. Mehr konnten Frauen ihres Standes wirklich nicht verlangen.
»Können wir aufbrechen?« Hiltruds Frage riss Marie aus ihren Gedanken.
»Ich bin bereit. Wie steht es mit dir?«
»Ich habe mich von Thomas verabschiedet.« Hiltrud täuschte eine Gelassenheit vor, die von ihren verräterisch feuchten Augen Lügen gestraft wurde. Da sie jedoch keine andere Wahl hatten, als auf die staubigen Straßen zurückzukehren, ging Marie nicht darauf ein. Hiltrud musste mit ihrem Kummer genauso fertig werden wie sie mit ihrer inneren Zerrissenheit.
Als sie das Tor in der äußeren Mauer erreichten, sah Marie Hiltrud fragend an. »Hast du eine Ahnung, wohin wir uns wenden können? Allzu lange sollten wir nicht alleine weiterziehen.«
»Wir gehen als Erstes nach St. Marien am Stein. Das ist nicht weit von hier, und dort findet, wie mir Thomas erzählt hat, am Palmsonntag eine Wallfahrt statt. Bei diesem Anlass finden wir gleich genügend Freier, um uns wieder an den Alltag zu gewöhnen.«
»Einverstanden. Dort werden wir bestimmt auch auf andere Frauen treffen, mit denen wir ohne Sorge weiterziehen können. Kennst du den Weg? Ich möchte möglichst nicht durchden Machtbereich des Keilburgers oder über Steinzeller Land ziehen.«
»Dann bleiben zwar nicht viele Straßen übrig«, spottete Hiltrud.
»Aber deine Angst ist nicht ganz unbegründet, denn Thomas hat Philipp von Steinzell ein paarmal in der Nähe von Arnstein herumlungern sehen. Der Bursche träumt wohl immer noch davon, dich zwischen den Schenkeln auszufüllen. Den Spaß werden wir ihm verderben.«
Hiltrud lachte übertrieben laut und trieb ihre Ziegen mit einem Zungenschnalzen an, die sich stärker ins Geschirr legten und fröhlich meckerten, während ihre drei Zicklein an den dünnen Leinen zerrten und wild herumsprangen, so als freuten sie sich auf den Frühling außerhalb der hohen Mauern.
Als sie am Torwächter vorbeikamen, winkte er und rief ihnen ein paar scherzhafte Worte zu. Hiltrud ging darauf ein und brachte ihn zum Lachen, ihre Stimme klang jedoch nicht so heiter wie ihre Worte, und ihr Gesicht verzog sich, als wollte sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. Jetzt, wo sie die Burg endgültig verließen, schien der Trennungsschmerz heftiger in ihr zu wühlen. Doch im Gegensatz zu Marie sah sie, während sie dem Serpentinenweg ins Tal folgten, kein einziges Mal zurück. Marie
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