Die Wanderhure
Mädchen nickte eifrig. »Freilich, Burkhard. Heute ist Verkündigung Mariä, der Tag, an dem Marie geboren und getauft wurde. Da muss ich doch für sie und die Seele ihres armen Vaters beten.«
Der Torwächter wiegte den Kopf. »Das werden einige nicht gerne sehen.«
»Ich weiß. Aber davon lasse ich mich nicht abhalten.« Unwillkürlich blickte Hedwig über die Schulter zurück in Richtung des Anwesens, das früher einmal Matthis Schärer gehört hatte und in dem nun der Magister Ruppertus Splendidus lebte. Dem Herrn gefiel es freilich nicht, dass sie die beiden Toten ehrte. Aber er konnte ihr nicht verbieten, an dem Grab zu beten, in dem der Schwager ihres Vaters begraben lag. Der Magister und einige andere behaupteten, dort läge nur ein aussätziger Bettler, doch das glaubten weder sie noch ihr Vater. Die Mutter tadelte sie immer wieder wegen ihrer Starrsinnigkeit und redete ihr eindringlich zu, endlich Ruhe zu geben, denn sie wollte den hohen Herrn nicht weiter erzürnen. Deswegen hatte Hedwig es auch nicht gewagt, ihr zu sagen, dass sie an diesem Morgen zum Grab gehen wollte.
Der Torwächter öffnete Hedwig die kleine Tür im Torflügel und wünschte ihr noch einen segensreichen Tag. Da sie jemanden kommen hörte, huschte sie ohne Antwort durch die Öffnung und lief eilig weiter. Kurz nach ihr kam ein Mann mittleren Alters im Habit eines Benediktinerabts auf das Paradiesertor zuund winkte dem Torwächter grußlos, ihm die Tür zu öffnen. Burkhard verzog das Gesicht und benötigte weitaus mehr Zeit als bei dem Mädchen, um das Schloss zu öffnen und die Tür aufzumachen, denn er mochte den fetten Abt nicht, der mit überheblicher Miene an ihm vorbeischritt, als wäre ein Torwächter kein Mensch, sondern nur ein ekelhaftes Insekt, das neben dem Tor auf einem Pflasterstein krabbelte. Burkhard wollte Hedwig nachrufen, dass sie Acht geben sollte. Doch als er den Kopf zum Tor hinausstreckte, war das Mädchen schon im Nebel untergetaucht. Burkhard war jedoch sicher, dass das Ziel von Abt Hugo, der sich nach seinem Kloster »von Waldkron« nannte, ebenfalls der Brüel war, auf dem neben dem Schindanger und der Richtstätte auch der Armenfriedhof der Stadt Konstanz lag.
Hedwig Flühi, Meister Momberts Tochter, lief inzwischen über das ungepflegte Geviert, auf dem man Bettler und andere heimatlose Wanderer begrub, die in Konstanz in die Ewigkeit eingingen. Sie eilte zwischen den schmucklosen und meist von Gestrüpp überwucherten kleinen Hügeln zu einer Stelle, die sich stark von den übrigen unterschied. Als sie erfahren hatte, wer dort begraben lag, hatte Hedwig schwarze Erde aus dem Wollmatinger Moor geholt, auf dem Grab verteilt und allerlei Blumenzwiebeln dort gepflanzt. Zu ihrer Freude blühten gerade Dutzende von Schneeglöckchen wie leuchtend weiße Sterne, und die ersten Krokusse streckten schon ihre grünen Finger aus der Erde.
Hedwig beugte sich nieder und glättete die Erde an einer Stelle, an der ein Hund gescharrt hatte. Dann sah sie traurig auf den kleinen Grabstein, den ihr Vater erst vor kurzem hatte aufstellen lassen. Es war schon der vierte seit den schrecklichen Ereignissen im Jahre des Herrn 1410. Hatte der erste Gedenkstein noch aus Granit bestanden, so musste Matthis Schärer sich jetzt mit einer einfachen Tafel aus gebranntem Ton begnügen. Es kam Mombert Flühi sonst zu teuer, denn der Stein verschwandmindestens einmal im Jahr oder wurde zerschlagen. Niemand wusste, wer das tat, doch Mombert und seine Tochter waren sich sicher, dass Magister Ruppertus Splendidus dahinter steckte. Der Herr mochte nicht daran erinnert werden, wie er zu seinem Reichtum gekommen war, aber Hedwig, die ihn von ganzem Herzen hasste, schwor sich von neuem, alles zu tun, damit er es nicht vergaß.
Sie strich über die einfache Inschrift auf dem Stein, die nur besagte, dass hier Matthis Schärer begraben lag. Außerdem stand noch Maries Name darauf, obwohl Meister Matthis’ Tochter nicht in diesem Grab ruhte. Hedwigs Eltern waren wie viele andere der Ansicht, Marie könnte die ungewöhnlich harte Bestrafung nicht lange überlebt haben. Hedwig wurde immer noch von grauenhaften Albträumen verfolgt, denn sie war an jenem schrecklichen Tag auf dem Markt gewesen und hatte eingekeilt in der Menge Maries Auspeitschung miterlebt. Trotzdem wehrte sie sich gegen die Vorstellung, Marie sei an den Folgen der Schläge gestorben, denn so ungerecht konnte Gott doch nicht sein. Stattdessen stellte sie sich vor, ihre Base
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