Die Wanderhure
Höhenrücken des Taborbergs zu ihrer Rechten allmählich zurücktreten und konnte nun schon die Petershausener Vorstadt erkennen. Das Schiff hielt jedoch nichtauf deren Ufer zu, sondern umrundete die Halbinsel und steuerte die Anlegestelle beim Stapelhaus der welschen Kaufleute an. Das Ufer vor dem hoch aufragenden Gebäude wimmelte von Menschen. Marie geriet in Panik, weil sie nichts anderes denken konnte, als dass man sie sofort erkennen und den Bütteln übergeben würde. Um ihre Angst zu bekämpfen, wiederholte sie ein über das andere Mal in Gedanken die Versicherung, die Jobst ihr gegeben hatte: Alle geladenen Besucher standen unter dem Frieden des Kaisers und durften nicht behelligt werden. Das galt auch für die Hübschlerinnen.
Als das Segel eingeholt wurde und der Nachen sich unter dem Druck der Stake dem befestigten Uferstreifen näherte, streckten sich Dutzende Arme dem Schiff entgegen. Einige fingen die Leinen auf, die die beiden Schiffsknechte ihnen zuwarfen, und schlangen sie um die dafür vorgesehenen Pfähle. Andere schoben zwei Planken hinüber, so dass die Passagiere das Boot halbwegs bequem verlassen konnten. Trotzdem stellten sich die Schifferknechte rechts und links neben den Brettern auf, um ihren Fahrgästen an Land zu helfen und Trinkgeld zu kassieren.
Als Erster zwängte sich Abt Hugo nach vorne und streckte den Knechten die Arme entgegen. Sie hoben ihn keuchend an, stemmten ihn über die Bordwand und hielten ihn fest, bis er sicher auf dem Trockenen stand. Ein Trinkgeld erwarteten sie jedoch vergebens, denn der Abt übersah ihre ausgestreckten Hände, raffte seinen Mantel an sich und schob sich mit seiner umfangreichen Gestalt rücksichtslos durch die Menge.
Marie beobachtete, wie er auf einen Mann zuging, der in einen Talar gekleidet war. Sogar auf diese Entfernung konnte sie sehen, dass das Gewand des Gelehrten im Gegensatz zu denen, die mit ihnen gereist waren, aus gutem Tuch bestand und mit Pelz besetzt war. Auch die modische Kappe wies darauf hin, dass der Träger anders als die meisten seiner Standesgenossen über einen gewissen Reichtum verfügen musste. Der Talar verbarg die Gestaltdes Mannes, und dennoch kam er Marie bekannt vor. Als er sich dem Abt zuwandte, konnte sie sein Gesicht erkennen und glaubte im ersten Moment, das Herz bliebe ihr vor Schreck stehen. Es war Magister Ruppert, der den Abt mit sichtlicher Freude begrüßte und ihm den Arm um die Schulter legte.
Marie zitterte vor Aufregung und schwitzte und fror zugleich, obwohl die Luft angenehm warm war. Am liebsten hätte sie sich unter der Ladung verkrochen und das Boot erst verlassen, wenn kein Mensch mehr in der Nähe war. Da der Schiffer seine lebende Fracht jedoch wie eine Herde Schafe von Bord trieb, klammerte sie sich wie ein kleines Kind an Hiltruds Rock und achtete darauf, in Deckung ihrer stattlichen Freundin zu bleiben.
Hiltrud sah Marie über die Schulter fragend an und bemerkte ihren panikerfüllten Blick. Zunächst begriff sie nicht, was ihre Freundin so erschreckt haben konnte. Doch dann dämmerte es ihr. »Der da drüben mit dem Geierblick, ist das dein ehemaliger Verlobter?«
Marie nickte nur stumm, denn ihr versagte die Stimme. Dann aber machte ihre Angst einem Gefühl alles überwältigenden Hasses Platz, der auf sie einschlug wie damals Hunolds Ruten. In diesem Moment wäre sie am liebsten auf den Verursacher ihres Unglücks losgegangen und hätte ihm ihre ganze Erbitterung ins Gesicht geschleudert. Jeder der Umstehenden sollte erfahren, was dieser Mann für ein Lump war. Schnell gewann jedoch ihre Vernunft wieder die Oberhand, denn niemand würde einer Hure Glauben schenken.
Als Ruppert und der Abt Richtung Fischmarkt verschwanden, ohne sich noch einmal umzusehen, atmete sie erleichtert auf und folgte Hiltrud, die gerade über die Bordwand sprang und leichtfüßig auf dem Uferstreifen landete.
Jobst hatte den Rest seiner Schutzbefohlenen versammelt und winkte die beiden Nachzüglerinnen zu sich. Die Gruppe wurde von etlichen Männern umlagert, die das Aussehen der Frauenkommentierten und ihnen anzügliche Worte zuriefen. So ein Benehmen hätte vor fünf Jahren in Konstanz Anstoß erregt und wäre unter Umständen sogar mit dem Pranger bestraft worden. Wie es aussah, hatte das Konzil die Sitten spürbar gelockert. Einer der Kerle forderte Nina sogar dazu auf, ihre Brust zu entblößen und ihren Rock zu heben, damit man sehen konnte, ob sich ein Besuch bei ihr lohne. Die anderen lachten
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