Die Wanderhure
Sicherheit gegen unerwünschte Eindringlinge zu bieten.
Als sie sich auf der Schwelle noch einmal umdrehte, um einen Blick über die einstige Ziegenweide zu werfen, die sich auf der anderen Seite des Ziegelgrabens erstreckte und mit Zelten, primitiven Hütten und Häusern, an denen teilweise noch gebaut wurde, übersät war, sah sie weiter rheinabwärts den Ziegelturm stehen und bekam Herzklopfen. Von nun an würde sie jedes Mal, wenn sie aus der Tür trat, an den Tag erinnert werden, an dem ihr Leben zerstört worden war. Am liebsten hätte sie einen Rückzieher gemacht und Jobst um ein Zimmer in einem Bordell gebeten. Doch dann schalt sie sich eine Närrin. Der Anblick des wuchtigen Turms war auch nicht schlimmer als die gelben Bänder an ihrem Kleid, die sie täglich an die Schändung und die daran anschließenden Demütigungen und Schmerzen erinnerten. Sie sah nach St. Peter hinüber, als könnte die Kirche ihr Kraft, Vernunft und die innere Ruhe geben, die sie in der nächsten Zeit benötigen würde.
In dem von den drei Freundinnen gemieteten Haus wohnten so viele Menschen, dass sie eigentlich nur abwechselnd oder im Stehen darin schlafen konnten. Marie zählte fünfzehn Mönche, die sich die beiden unteren Stuben mit noch einigen abwesenden Mitbrüdern teilten, während ein Ritter mit seinen beiden Knechten im Dachstübchen Unterschlupf gefunden hatte. Als Jobst die Leute aufforderte, das Gebäude zu räumen, schimpften und fluchten sie und drohten handgreiflich zu werden. Aber der Ritter, der das Haus gemietet hatte, begriff schnell, dass hier Huren einziehen wollten, und versuchte, seinen eigenen Vorteil daraus zu ziehen. Er bot den Frauen an, die Mönche eigenhändig hinauszuwerfen und ihnen die unteren Stuben zu überlassen. Es stellte sich heraus, dass der Mann den Mönchen Geld abverlangt hatte, selbst jedoch den Mietzins schuldig geblieben war. Daher bestand Jobst darauf, dass er ebenfalls auszog. Bevor der Streit eskalierte, griff der Edelmann ein, der die Gruppe begleitet hatte, und befahl dem Ritter kurzerhand, sichein neues Quartier zu suchen. Zu Maries Verblüffung gab dieser sofort nach.
Während die nachrangigen Mönche und die Dienstmänner des Ritters das Gepäck hinaustrugen, machte der Ritter sich an Marie heran, und die ranghöheren Fratres hatten offensichtlich vor, sich von Hiltrud und Kordula den Auszug versüßen zu lassen. Hiltrud steckte den Kopf in eine der beiden Kammern im Erdgeschoss und schüttelte sich, als sie den Schmutz sah, der sich hier angesammelt hatte. Die Mönche, die hier gewohnt hatten, schienen mehr Wert auf die Pflege ihrer Seele als auf die ihrer Umgebung gelegt zu haben. Ihr war jedoch klar, dass sie den frommen Bruder, der ihr gefolgt war, nicht eher loswerden würde, als bis er seine Befriedigung gefunden hatte.
Der Ritter hatte weniger Erfolg, denn der Edelmann legte Besitz ergreifend den Arm um Marie, zog sie an sich und funkelte seinen Nebenbuhler mit dem offenen Auge abweisend an. Der Ritter zuckte seufzend mit den Achseln und wandte sich Kordula zu, so dass die Mönche, die sich für sie interessierten, verärgert zurückwichen. Kordula sah Madeleine fragend an, da sie nicht wusste, wie sie sich verhalten sollte.
Die Sprecherin der Huren nickte ihr auffordernd zu. »Da die Herren so entgegenkommend waren, solltet ihr ihnen eure Dankbarkeit beweisen. Das gilt auch für dich, Marie. Schließlich hat Herr von Wolkenstein sich für dich und deine Gefährtinnen eingesetzt.«
Marie sagte der Name Oswald von Wolkenstein nichts, doch der Ritter, der ihren fragenden Blick auf sich bezog, erklärte ihr, welches Glück sie hatte, so einen ausgezeichneten Mann kennen zu lernen. Seinem Wortschwall entnahm sie, dass der Wolkensteiner ein bevorzugter Gefolgsmann des Kaisers und ein berühmter Sänger und Dichter war und sie Gott für die Bekanntschaft mit einem so berühmten Manne danken müsse.
Marie schnitt dem Ritter mit artigen Worten den Redefluss abund dachte bei sich, dass sie Gott danken würde, wenn sich der Herr von Wolkenstein im Bett nicht als grober Klotz erwies. Während Hiltrud und Kordula mit ihren Freiern in den Zimmern im Erdgeschoss verschwanden, von denen eines auch als Küche diente, stieg Marie vor dem Wolkensteiner die Leiter zur Dachkammer hoch. Der Raum war so klein, dass nur eine Person zur gleichen Zeit aufrecht darin stehen konnte, und das schmutzige Giebelfenster ließ kaum Licht hinein. So konnte Marie die alten Strohsäcke, die den
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