Die Wanderhure
Stoffstreifen in das Kohlebecken, in dem er sofort vom Feuer verzehrt wurde. Ihr Gesicht verzerrte sich, als müsse sie besonders ekelhafte Raupen von einem Rebstock entfernen, doch sie hielt nicht eher inne, bis sie das letzte gelbe Band in die Glut geworfen hatte. Mit sichtlichem Aufatmen winkte sie den anderen drei Nonnen, das Werk fortzuführen. Diese entfalteten ein weißes Hemd, streiften es Marie über das Kleid und führten sie so vor den Richter. Pater Honorius schlug das Kreuz, schöpfte dann mit der Rechten Weihwasser, das ihm ein Mönch in einer Schale reichte, und ließ es über Maries Kopf rinnen.
»Im Namen des dreieinigen Gottes spreche ich dich, Marie Schärerin, aller deiner Sünden frei und erkläre dich für so rein und unschuldig, als seiest du eben dem Mutterschoß entschlüpft.«
»So sei es«, warf der Bischof lächelnd ein.
Friedrich von Zollern hatte selbst darauf gedrungen, dass Honorius von Rottlingen Maries Freisprechung übernahm. Die selbstherrlichen Äbte und Mönche des Inselklosters hatten seinen Vorgängern auf dem Konstanzer Bischofsstuhl und auch ihm oft genug hart zugesetzt. Nun war es ihm gelungen, mit Pater Honorius den hoffärtigsten von ihnen zu demütigen und mit ihm alle Mönche dieses Klosters.
Marie begriff zunächst nicht, was das Ganze sollte. Sie und unschuldig?Das konnten auch die Worte eines Pfaffen nicht mehr bewirken. Aber wenn die Bürger von Konstanz diesen Spruch akzeptierten und ihr das Bürgerrecht zurückgaben, konnte sie sich mit ihrem Geld ein Häuschen kaufen und als geachtete Bürgerin hier leben. Ein bösartiges Gelächter ließ sie hochschrecken. »Du kannst die Hure ruhig freisprechen, du schwarze Krähe«, brüllte Utz in den Saal hinein. »Trotzdem wird sie die Männerschwänze nicht vergessen, die sie zwischen den Beinen hatte. Und meiner war der erste!« Utz wollte noch mehr sagen, doch da presste ihm ein Gerichtsbüttel einen Knebel zwischen die Zähne, so dass er nur noch lallen konnte.
Auf Marie wirkten Utz’ Worte wie ein Guss kalten Wassers. Für einen Augenblick hatte sie gehofft, die letzten fünf Jahre seien ausgelöscht worden und sie könne wieder in Konstanz leben. Doch nun begriff sie, dass ihre Mitbürger ihre Vergangenheit nicht vergessen würden. Die Männer würden sie als leichte Beute ansehen und die Frauen die Türen vor ihr verschließen. Nur kurz dachte sie daran, dass Utz auch diesmal gelogen hatte. Nicht er war der Erste gewesen, sondern Hunold, der wimmernd und zitternd auf der Armesünderbank saß. Marie empfand kein Mitleid mit ihm, aber auch keine besondere Freude über die Verurteilung ihrer Feinde, die sie seit so vielen Jahren herbeigesehnt hatte.
Stattdessen hatte sie das Gefühl, vor einem Abgrund zu stehen und verzweifelt nach einem Steg zu suchen. Das Einzige, was ihr eine Zukunft verschaffen konnte, war Geld. Für eine Wanderhure war sie reich, doch all ihr Gold würde nicht reichen, sich das Bürgerrecht einer kleinen, weit entfernten Stadt zu kaufen, dort ein Haus und zwei Ziegen zu erwerben und von dem Rest bescheiden leben zu können. Mit einem Seufzer dachte sie an das Vermögen, das ihr Vater einst besessen hatte. Wenn man ihr nur ein Drittel davon zurückgab, würde sie sich und Hiltrud eine lebenswerte Zukunft schaffen können.
Während sie noch rätselte, wie es weitergehen sollte, besprengtePater Honorius sie erneut mit Weihwasser und sprach den Segen über sie. Marie glaubte, nun alles überstanden zu haben. Doch da traten die vier Nonnen erneut auf sie zu und streiften ihr ein Kleid aus dunkelblauem Stoff über das weiße Hemd. Es war mit reichen Stickereien und Pelzbesatz verziert und bestand, wie Marie fühlte, aus bestem flandrischem Tuch. So etwas trugen die reichsten und angesehensten Konstanzer Bürgerinnen zur Sonntagsmesse. Marie war es im Augenblick nur lästig, denn im Saal war es heiß, und jetzt, wo sie drei Schichten Kleidung übereinander trug, rann ihr der Schweiß in Strömen den Rücken hinab und ließ ihre Peitschennarben höllisch jucken. Am liebsten hätte sie Mechthild von Arnstein, die auf sie zutrat, gebeten, ihr den Rücken zu kratzen.
Die Dame nahm sie an der Hand, führte sie zu Abt Adalwig und blieb dort mit ihr stehen, ohne sie loszulassen. Ein Ritter aus dem Gefolge des Pfalzgrafen ergriff Michels Hand und hieß ihn, sich neben Marie zu stellen. Abt Adalwig lächelte ihnen begütigend zu. Als er zu sprechen begann, glaubte Marie zunächst, seine Sinne wären
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