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Die Wanderhure

Titel: Die Wanderhure Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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begann diese Leute zu hassen, die sich nur für ihr Wohlergehen und ihren Machtzuwachs interessierten, aber Tieferstehende wie Spielfiguren behandelten. Schließlich ging es ja auch um ihr Schicksal, und sie empfand es als höchst ungerecht, von dem Prozess ausgeschlossen worden zu sein. Zwischendurch, wenn ihre Wut sich erschöpft hatte, fragte sie sich, wie es weitergehen mochte. Das Ziel, für das sie gelebt hatte, würde sich in dem Moment erfüllen, in dem die Männer, die sie geschändet und in den Schmutz der Landstraße gestoßen hatten, verurteilt und bestraft wurden. Was danach kam, lag wie einedrohende schwarze Wolke vor ihr. Auf keinen Fall würde sie weiterhin als Wanderhure über die Straßen ziehen, aber für eine heimatlose, entehrte Frau gab es nur einen anderen Ausweg: den Tod.
    Der vierte Tag begann wie die drei anderen. Marie wurde durch ein Klopfen geweckt. Eine der Nonnen öffnete die Tür und brachte das Tablett mit dem Morgenbrei. Ohne ein Wort zu sagen, stellte sie es auf den Tisch, griff nach dem benutzten Nachtgeschirr und verschwand wieder so lautlos wie ein Schatten.
    Marie aß mit wenig Appetit, und als wieder jemand an die Tür klopfte, nahm sie an, man wolle den noch halb vollen Napf wieder abholen und ihr den Nachttopf zurückbringen. Sie schob den Rest des Breis von sich und stand auf. Zu ihrer Verwunderung traten vier Nonnen in der Tracht des zweiten Ordens des heiligen Franziskus ein. Die Gesichter der vier Frauen wirkten ernst, ja sogar ein wenig feierlich, aber nicht unfreundlich.
    »Marie Schärerin, wir haben den Auftrag, dich anzukleiden und vor deinen Richter zu bringen.« Die Oberin nickte ihr mit der Andeutung eines Lächelns freundlich zu, dennoch jagten die Worte Marie Schauer über den Rücken.
    Hatte man sie angeklagt, weil sie es gewagt hatte, nach Konstanz zurückzukehren? Oder wollte man sie als eine der Anstifterinnen des Hurenaufstands bestrafen? Sie straffte die Schultern und sagte sich, dass man ihr wohl kaum ans Leben wollte, denn sonst hätte man nicht die frommen Frauen, sondern die Stadtbüttel geschickt. Sie streifte den Kittel ab, den sie hier hatte tragen müssen, und nahm das Kleid entgegen, das die Nonne ihr samt dem Korb reichte, in dem es lag. Es war eines der ihren, ihr bestes, aber es war mit neuen, frisch eingefärbten Hurenbändern versehen worden. Sie streife es über, knöpfte es zu und deutete den Nonnen mit trotzig vorgeschobenem Kinn an, dass sie bereit sei. Die vier nahmen sie wie Wächter in die Mitte und führten sie durch endlos lange Korridore, auf denen sie keinem Menschen begegneten,in den Innenhof des Klosters, in dem ein geschlossener Reisewagen auf sie wartete.
    Da Marie zögerte, legte die Oberin ihr die rechte Hand auf die Schulter und schob sie auf das Gefährt zu. Es war groß genug, sie alle aufzunehmen, und besaß zu Maries Überraschung gepolsterte Sitze. Die hohen Herrschaften, die diese Kutsche sonst benutzten, hatten offensichtlich wenig für zerstoßene Hinterteile übrig. Marie fragte sich zwar bang, wohin die Reise wohl gehen mochte, schob ihre Ängste dann jedoch von sich weg und spähte durch einen Spalt, den das Fensterleder offen ließ, nach draußen. Zu ihrer Verwunderung fuhr der Wagen über die Rheinbrücke in die Stadt hinein. Als er kurz darauf anhielt, erblickte Marie jenen Ort, den sie niemals hatte wiedersehen wollen – das Inselkloster des Dominikanerordens, in dem sie damals verurteilt worden war.
    Wie es schien, nahm man es derzeit mit der Geschlechtertrennung in den Konstanzer Klöstern nicht mehr so genau, denn die Nonnen eskortierten Marie in den weitläufigen Bau und führten sie in den gleichen Saal, in dem man vor mehr als fünf Jahren das Urteil gegen sie gefällt hatte. Der Raum sah noch genauso aus wie in ihrer Erinnerung. Nur war er diesmal bis auf den letzten Hocker belegt, und an den Wänden ringsum standen Gerichtsdiener und Gefolgsleute höherer Herrschaften.
    Auf einem hochlehnigen Stuhl, der mit den Symbolen des Reiches geschmückt war und unter einem kleinen Baldachin stand, hatte der Kaiser Platz genommen. Der lange rote Waffenrock und das goldene Wappenschild mit dem schwarzen Reichsadler auf der Brust unterstrichen, wie wichtig Sigismund von Böhmen den Prozess zu nehmen schien. Sein Gesicht wirkte jedoch ungeduldig und gelangweilt, was man von den Herren um ihn herum nicht sagen konnte.
    Direkt neben ihm saßen Pfalzgraf Ludwig und der Bischof von Konstanz, der den Kopf auf die rechte

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