Die Wanderhure
In einer guten Stunde würde es Nacht werden, aber da der wolkenlose Himmel helles Mondlicht versprach, beschloss er, Marie so lange wie möglich zu folgen. Sein Vater oder seine Brüder würden frühestens am Morgen nach ihm suchen, und da wollte er so weit weg sein, dass sie seine Verfolgung aufgaben.
Michel schüttelte die Gedanken an seine Familie und sein Elternhaus ab und überlegte, was er tun musste, wenn er Marie gefunden hatte. Sie war verletzt und hatte sicher großen Hunger und Durst. Jetzt ärgerte er sich, dass er es nicht gewagt hatte, einen Laib Brot und etwas Wurst oder Schinken aus der Küche zu holen. Er würde in Wollmatingen oder Hegne etwas zu essen besorgen und dafür seine ersten Münzen opfern müssen. Ein Blick auf den über den Bäumen aufgehenden Mond erinnerte ihn daran, wie schnell die Zeit verstrich, und er beschleunigte seinen Schritt. Er marschierte so lange, bis seine Beine schwer wie Blei wurden und sein Magen unüberhörbar zu knurren begann.
Bei Tagesanbruch war er schließlich so erschöpft, dass er ein Stück vom Weg entfernt ins Unterholz kroch, um ein wenig zu schlafen. Aber kaum hatte er die Augen geschlossen, da überfielen ihn Albträume, in denen er Marie tot vor sich liegen sah, erschlagen von seinem eigenen Vater, während ein Büttel ihn an den Pfahl band und auf ihn einschlug, bis er sich im Fegefeuer wiederfand. Schreiend fuhr er hoch und beschloss, trotz seiner Müdigkeit den Weg fortzusetzen. In einer Schenke erstand er für ein paar Pfennige einen Becher Wein und ein Stück kalten Braten. Er hielt sich nur so lange auf, wie er benötigte, um das Essen hinabzuschlingen, denn die Angst um Marie ließ ihn nicht los, er wollte sie so rasch wie möglich einholen.
Während des Tages begegneten ihm immer wieder Fuhrleute und Reisende, die nach Konstanz unterwegs waren. Michel wagte es kaum, jemanden zu grüßen, geschweige denn, nach Marie zu fragen. Wenn auch nur einer der Männer in die Schenke seines Vaters kam und von dieser Begegnung erzählte, würden seine Verwandten wissen, in welcher Richtung sie ihn suchen mussten.
Die Nacht sank bereits herab, als er zwei Reiter auf sich zukommen sah. Er erkannte die beiden Gerichtsdiener, die Marie aus der Stadt gebracht hatten, und trat auf sie zu. Da sie nicht anhalten wollten, griff er nach dem Zügel eines der Pferde.
Die beiden Männer hatten schon manchen Krug Bier bei seinem Vater geleert und grüßten ihn verwundert. »Hallo, Michel, wohin so spät des Weges?«
»Grüß dich, Burkhard, grüß dich, Hannes. Habt ihr Marie gut fortgebracht?«
»Freilich, Michel, die wird man in Konstanz so schnell nicht wieder sehen.« Der Mann, den Michel Burkhard genannt hatte, lachte darüber wie über einen guten Witz, wurde dann aber rasch ernst und sah Michel scharf an. »Warum fragst du? Du bist doch nicht etwa hinter der kleinen Hure her?«
Michel wurde bei dieser Frage so verlegen, dass die beiden Gerichtsdiener zu lachen begannen.
»Hat dir das Weibsstück das Blut erhitzt, Michel? Ich sage dir, vergiss sie. Die ist nicht wert, dass ein braver Bursche wie du in Schwierigkeiten kommt.«
Michel schüttelte störrisch den Kopf. »Ihr könnt mir trotzdem sagen, in welche Richtung sie gegangen ist.«
Burkhard zögerte, doch sein Begleiter ließ sich kein zweites Mal bitten. »Wir haben sie an den Radolfzeller Kreuzweg gebracht. Dort hat sie sich nach Süden gewandt. Sie will wohl zum Rhein hinunter. Bei den Schiffern und Fuhrleuten ist eine neue Hure stets willkommen. Aber jetzt Gott befohlen, Michel. Wir wollennoch vor der Dunkelheit in Allensbach einkehren.« Damit trieb er sein Pferd an und ritt weiter. Burkhard folgte ihm kopfschüttelnd.
»Warum hast du den Burschen belogen? Du hast doch auch gesehen, dass die kleine Metze Richtung Singen gegangen ist.«
Sein Gefährte zuckte mit den Schultern. »Willst du, dass Michel sich wegen einer Hure zum Narren macht? Ich nicht. Lass ihn doch nach Radolfzell und weiter bis zum Rhein laufen. Bis dahin wird ihm die Lust vergangen sein. Außerdem kennen die Schiffer ihn und werden ihn nach Konstanz mitnehmen. In spätestens drei Tagen ist der Bursche wieder zu Hause. Sein Vater wird uns dankbar sein und den einen oder anderen Krug umsonst füllen.«
»Gegen einen Schluck in Guntram Adlers Schenke hätte ich nichts einzuwenden. Er braut das beste Bier von Konstanz.«
Burkhard beschloss, Michels Vater gleich morgen nach ihrer Ankunft aufzusuchen.
Unterdessen schritt Michel von
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