Die Wanderhure
neuer Hoffnung erfüllt weiter. Kurz vor Sonnenuntergang erreichte er die Radolfzeller Kreuzung und bog nach Süden ab. Er verfehlte Marie dabei um weniger als eine halbe Stunde. Als er am nächsten Abend nach einem anstrengenden Marsch über den Schiener Berg den Ort Stein am Rhein erreichte und nach ihr fragte, erhielt er nur Kopfschütteln als Antwort.
In einem täuschten Burkhard und Hannes sich. Michel kehrte nicht mehr nach Hause zurück, und es suchte auch keiner nach ihm. Sein Vater schimpfte zwar noch eine Weile über den undankbaren Balg, zuckte aber schließlich mit den Schultern und versuchte, ihn zu vergessen. Er besaß noch genug andere Söhne und brauchte dem einen nicht nachzuweinen. Seine Gäste aber fragten noch etliche Male nach dem Jungen und erinnerten ihn damit noch lange an den Tag, an dem Marie Schärerin verbannt worden und Michel Adler ihr nachgelaufen war.
X.
Z u der Zeit, in der Michel in der väterlichen Wirtschaft den Bratspieß drehte, fasste Matthis Schärer einen Entschluss. Sein Kopf, der von dem Augenblick an, in dem das Unglück über ihn hereingebrochen war, keinen klaren Gedanken mehr hatte fassen können, arbeitete jetzt wieder einwandfrei. Man mochte Marie verurteilt, ausgepeitscht und aus der Stadt vertrieben haben, dennoch blieb sie seine Tochter. Er würde nicht zulassen, dass ihr noch mehr Leid geschah. Es hatte jedoch keinen Sinn, ihr nachzulaufen und dann wie ein Bettler auf der Straße zu stehen und auf das Erbarmen einer mitleidigen Seele zu hoffen. Nein, er musste nach Haus zurückkehren, den Wagen anspannen lassen und ihr mit genügend Gepäck und einer Börse voller Gold zu Hilfe kommen.
Er würde sie an einen Ort bringen, wo sie in Frieden leben und das schreckliche Geschehen vergessen konnte. Leider würde er sie nicht in dem schönen Anwesen einquartieren können, das er in Meersburg erworben hatte, denn dort herrschte Bischof Otto von Hachberg noch wesentlich uneingeschränkter als in Konstanz, das sich als freie Reichsstadt eine gewisse Unabhängigkeit zu bewahren wusste. Er besaß jedoch Geschäftsfreunde in Laufenburg, die ihm gewiss beistehen und beim Erwerb eines Hauses unterstützen würden.
Von diesen Gedanken beseelt, schüttelte Meister Matthis die Hände seines Schwagers ab und eilte beinahe so flink wie ein junger Mann zu seinem Haus zurück.
»Packe ein paar Kleidungsstücke für Marie zusammen und sag Holdwin, er soll den Schecken vor den Wagen spannen und das Handpferd satteln«, rief er Wina zu, die ihn mit schreckensbleichem Gesicht an der Tür empfing. Er war schon die halbe Treppe hochgestiegen, als er sah, dass die Wirtschafterin noch immer starr und steif im Flur stand.
»Was ist denn mit dir los?«
»Der Magister. Er ist oben.« Winas Stimme klang so leise, als fürchte sie, Ruppert könne sie hören.
Matthis Schärers Gesicht färbte sich purpurrot. Der Hass auf den Mann, der zu den Verleumdern seiner Tochter gehalten und das Leben seines Kindes zerstört hatte, ließ ihm das Blut in den Kopf steigen, so dass die Welt um ihn schwankte und er nach Luft schnappen musste. Er senkte den Kopf, stapfte die Treppe hoch und riss die Tür zu seinem Kontor auf. Dort war jedoch niemand. Als er sich umdrehte, sah er, wie Linhard aus dem Wohnzimmer trat, kurz in den Flur spähte und sich schnell wieder zurückzog. Matthis rannte hinüber und stürmte in den Raum, in dem er keine vierundzwanzig Stunden zuvor mit Ruppert und seinen Gästen den Heiratsvertrag gefeiert hatte. Hier fand er den Magister mit dem Fuhrmann Utz Käffli an seinem Tisch sitzen und seinen Wein aus seinen Silberbechern trinken. Linhard, der wie das leibhaftige schlechte Gewissen wirkte, zog sich hinter den Rücken des Fuhrmanns zurück, als wolle er dort Schutz suchen.
Ruppert flegelte sich mit lässig ausgestreckten Beinen auf Matthis’ Lieblingsstuhl und sah Maries Vater mit spöttischem Lächeln entgegen.
Matthis Schärer schüttelte die Fäuste. »Was habt Ihr in meinem Haus zu suchen? So einen Ehrabschneider wie Euch dulde ich in meinen Wänden nicht! Los, verschwindet! Macht, dass Ihr wegkommt, und nehmt dieses Gesindel da gleich mit.«
Der Magister nahm ein Stück Pergament vom Tisch und reichte es ihm so gelassen, als wäre nichts geschehen. »In Eurem Haus? Angesichts der Tatsache, dass ich durch eine Ehe mit Eurer Tochter eine reiche Mitgift und später ihr Erbe zu erwarten hatte, sprach mir das bischöfliche Gericht zu Konstanz Euren gesamten Besitz als
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