Die Wanderhure
nicht sehen, aber er vernahm das Klatschen der Rutenhiebe und krümmte sich innerlich unter Maries schmerzerfüllten Schreien, so als träfen die Hiebe ihn selbst.
Erst als die Gerichtsdiener Marie im Schandkleid hinter sich herschleppten, konnte er einen Blick auf sie werfen. Blutig geschlagen, mit kurz geschnittenem Haar, das ihr wie ein Heiligenschein um den Kopf stand, und mit einem von Qualen gezeichneten Gesicht erschien sie ihm wie die lebendig gewordene Statue einer heiligen Märtyrerin. Dieses Mädchen war so rein und unschuldig wie ein Engel, davon war er mehr denn je überzeugt. Als er einen Blick auf die Reiter warf, die Marie wegbrachten, stellten sich ihm die Haare auf den Armen auf. Die Männer würden seine Marie irgendwo hilflos auf der Landstraße aussetzen.
Obwohl er wusste, dass Bären und Wölfe schon längst aus dem Umkreis der Städte und Dörfer am Nordrand des Bodensees vertrieben worden waren, war er fest überzeugt, dass Marie nachts von herumstreifenden Bestien aufgespürt und zerrissen werden würde. Das durfte er nicht zulassen. In diesem Moment fasste er den Entschluss, Marie gegen alle Gefahren der Welt beizustehen. Ohne darüber nachzudenken, dass er nichts besaß als die Kleidung auf seinem Leib und die blanken Hände, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, ließ er sich bis Petershausen in der gaffenden Menge treiben, um unauffällig aus der Stadt zu kommen.
Gerade als er durch das Tor laufen wollte, um Marie aufzuheben, die gestürzt war und ein paar Schritte mitgeschleift wurde, entdeckte sein Vater ihn und packte ihn wie einen jungen Hund im Genick. Guntram Adler schob ihn vor sich her in die Stadt und ließ ihn erst los, als sie die Gasse erreichten, in der ihre Schenkestand. Dort stieß er ihn gegen eine Hauswand und baute sich vor ihm auf.
»Mein Herr Sohn lässt seine Arbeit im Stich und läuft einer halb nackten Hure nach, während seine Brüder die ganze Arbeit tun müssen. Mach, dass du ins Haus kommst, du elender Faulpelz, sonst vergesse ich mich! An einem Tag wie heute haben die Leute Durst. Hast du die Tische sauber gemacht und das Bierfass auf den Bock gestellt, wie ich es dir befohlen habe?«
Da Michel nicht schnell genug antwortete, holte sein Vater aus und gab ihm eine Ohrfeige, dass sein Kopf gegen die Mauer flog.
»Du pflichtvergessener Lümmel! Du taugst nichts und frisst mir nur die Haare vom Kopf. Los, an die Arbeit, sage ich dir, sonst bekommt die Maulschelle rasch Brüder.«
Michel wagte es nicht, sich ernsthaft gegen seinen Vater zu wehren. Das hätte ihm nur eine Tracht Prügel und ein paar Nächte in einem Kellerloch bei Wasser und hart gewordenen Brotkrusten eingebracht. Wenn er Marie beschützen wollte, durfte er jetzt keinen Widerstand leisten, sondern musste warten, bis sein Vater und seine Brüder durch die Gäste vollständig abgelenkt waren.
Michel hatte der Verlesung des Urteils nicht selbst beigewohnt, sondern nur das Geschwätz der Umstehenden gehört. Daher wusste er nicht, wie weit die Gerichtsdiener Marie wegbringen sollten. Da die Männer beritten waren, würden sie sie gewiss über die Grenze des Konstanzer Gerichtsbanns treiben, und das war mehr als eine Tagesreise weit. Wenn er die Spur nicht verlieren wollte, musste er Marie noch vor Anbruch der Dunkelheit folgen. So wartete er ungeduldig auf eine Gelegenheit, das Haus ungesehen zu verlassen.
Guntram Adler hielt nicht viel von Müßiggang, am wenigsten bei seinen Söhnen. An diesem Tag musste jeder von ihnen für zwei schuften, denn die Gäste drängten sich dicht an dicht in der Schankstube, und die Tische vor dem Haus waren ebenfalls voll besetzt, so dass viele ihr Bier im Stehen trinken mussten. Bruno,der Älteste, stand hinter der Theke und befahl Michel, kaum dass sein Vater ihn in den Schankraum gestoßen hatte, weitere Bierfässer aus dem Keller hochzuschaffen.
Als Michel den Auftrag erfüllt hatte, musste er die Küchenmagd ablösen, die den Bratspieß gedreht hatte und nun am Herd gebraucht wurde. Kaum durfte er die Feuerstelle verlassen, wurde ihm gleichzeitig befohlen, Gäste zu bedienen und weitere Fässer in die Schankstube zu holen. Jedes Mal, wenn er verschnaufen wollte, hatten Bruno oder sein Vater einen neuen Auftrag für ihn. Zu seine mÄrger brachte ihn keiner davon aus der Reichweite seiner Familienmitglieder, so dass er sich hätte davonschleichen können. Spät am Nachmittag ließ Bruno ihn einen Augenblick verschnaufen. Er schien zufrieden mit ihm zu
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