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Die Wanderhure

Titel: Die Wanderhure Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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zwar so richtig, sage ich dir.«
    Michel packte eine sengende Wut auf den Kerl. Er stellte die Krüge mit einem harten Ruck auf den Tisch, ohne darauf zu achten, dass sie überschwappten, und packte den jungen Goldschmied am Kragen.
    »Lügenmaul! Marie hätte so etwas Jämmerliches wie dich nicht einmal angesehen.«
    Benedikt starrte ihn verdattert an. »He, was soll das? Lass mich sofort los. Außerdem, was geht es dich an, ob ich Marie gestoßen habe?«
    »Ein paar Maulschellen kannst du für deine Lügen haben, aberso, dass dir die Ohren noch tagelang gellen.« Michel setzte diesen Vorsatz sofort in die Tat um und fegte Benedikt mit zwei derben Ohrfeigen von der Bank. Der junge Mann sprang wütend auf und ging auf Michel los. Er war zwei Jahre älter und kräftiger gebaut und hatte bisher alle Ringkämpfe mit Michel gewonnen. Doch diesmal halfen ihm weder seine Kraft noch seine Finten. Michel war gerade dabei, ihm die schlimmste Tracht Prügel seines Lebens zu verabreichen, als sein Vater dazwischenfuhr und die Streithähne trennte.
    »Aufhören! In meiner Schenke wird sich nicht geprügelt.«
    Benedikt schob sein zerrissenes Hemd in die Hose und warf den Kopf hoch. »Dein Michel ist ohne Grund über mich hergefallen.«
    Guntram Adler gab seinem Sohn nicht einmal die Gelegenheit zur Rechtfertigung, sondern schlug ihm mit aller Kraft ins Gesicht. »Dir werde ich es austreiben, einen Gast zu verprügeln! Und noch dazu den Sohn des ehrenwerten Goldschmieds Munk.«
    Er holte noch einmal aus, doch diesmal war Michel darauf gefasst und wich ihm aus. Der Wirt warf seinem Sohn einen bitterbösen Blick zu, legte Benedikt den Arm um die Schulter und lächelte ihn wohlwollend an.
    »Setz dich in die Stube, mein Junge. Bruno wird dir einen Hocker besorgen und einen großen Krug Bier abfüllen. Und du, Michel, kommst mir heute nicht mehr unter die Augen, hast du verstanden?«
    Ohne Michel eines weiteren Blickes zu würdigen, führte er den Sohn des Goldschmieds ins Haus. Die anderen Burschen folgten ihnen in der Hoffnung, doch noch einen Platz in der Schankstube zu ergattern und ihr Gespräch fortsetzen zu können.
    Michel sah ihnen nach und schüttelte sich wie ein ins Wasser gefallener Hund. Seine Wut auf den lügnerischen Goldschmiedsgesellen wich dem Zorn auf seinen Vater. Ich soll ihmnicht mehr unter die Augen treten?, dachte er. Nun gut, den Gefallen werde ich ihm tun. Kurz entschlossen ging er ums Haus zur Hintertür und stieg die schmale Treppe zu dem Dachstübchen hoch, das er mit den beiden jüngeren Brüdern teilte. In dem Raum befanden sich drei Strohsäcke, auf denen dünne Decken lagen, sowie mehrere hölzerne Haken für ihre wenigen Kleidungsstücke. Früher hatte noch eine Truhe an der Wand gestanden, doch die hatte der Vater seinem Zweitältesten nach Meersburg mitgegeben.
    Michel wickelte seine Ersatzkleidung in eine Decke und verknotete sie zu einem Bündel. Danach band er seinen Strohsack auf und suchte mit der Hand nach einem kleinen, in einen Leinenfetzen gewickelten Päckchen, das er hier versteckt hielt. Es barg sein ganzes Vermögen, nämlich die Münzen, die ihm zufriedene Gäste als Trinkgeld zugesteckt hatten, ohne dass sein Vater oder seine Brüdern es gemerkt hatten. Eigentlich hätte er das Geld bei seinem Vater abliefern müssen, denn nur Bruno hatte die Erlaubnis, sein Trinkgeld zu behalten. Er schob das Päckchen unter sein Hemd, warf das Bündel über die Schulter und verließ leise die Kammer.
    Auf der Treppe blieb er mehrmals stehen, um zu lauschen. Er vernahm die dröhnende Stimme seines Vaters, die die Schankstube zu sprengen schien. Den Gästen gegenüber klang sie stets jovial bis devot, während er seine Söhne zumeist nur anbrüllte. Ein fremder Meister hätte nicht strenger sein können als der eigene Vater. Michel war in seinem Elternhaus nur ein unbezahlter Knecht gewesen, und ihm war klar, dass er auch woanders kein besseres Leben zu erwarten hatte. Aber wie die Dinge standen, zog er es vor, sich für ein paar Groschen bei einem Bauern zu verdingen. Zuerst musste er jedoch Marie finden.
    Das Schicksal schien es gut mit ihm zu meinen, denn als Michel durch den Seiteneingang hinausschlich und durch den schmalen Durchgang zwischen der Schenke und dem Nachbarhausnach hinten lief, begegnete er bis zur übernächsten Gasse keinem Menschen. Doch er wagte erst aufzuatmen, als er die gelangweilten Torwachen am Rheintor hinter sich gelassen und die Brücke nach Petershausen passiert hatte.

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