Die Wanderhure
verscharrt.
ZWEITER TEIL
Ausgestoßen
I.
M arie war zum Sterben elend.
Die Schmerzen auf ihrem Rücken und in ihrem Unterleib breiteten sich bis in die Spitze jedes einzelnen Härchens auf ihrer Haut aus und ließen jede Bewegung zur Qual werden. Ihr Körper glühte von innen heraus, und sie hätte sich am liebsten im kühlen Schatten eines dichten Gebüschs verkrochen und auf ihr Ende gewartet. Doch die Angst trieb sie weiter. Rechts und links der Straße zogen sich Felder und Wiesen hin, die nur hie und da von etwas dürrem Gestrüpp unterbrochen wurden, das keinen Schutz vor fremden Blicken bot. Sie wollte sich nicht einfach fallen lassen, denn in ihrem Kopf zuckten immer wieder die Bilder der Männer auf, die sie vergewaltigt und verhöhnt hatten, und sie fürchtete, wieder so misshandelt zu werden, wenn sie in Sichtweite der Straße liegen blieb.
Als sie ein kleines Wäldchen erreicht hatte und sich auf einem kühlen Moospolster ausstrecken wollte, um auf Gevatter Tod zu warten, trieb das Plätschern eines nahen Baches sie wieder auf die Beine. Für lange Augenblicke konnte sie an nichts anderes denken, als ihren quälenden Durst zu stillen und die Wunden zu kühlen. Sie rutschte ins Wasser und genoss die erfrischende Kälte. Dann richtete sie sich auf und trank, bis sie glaubte, keinen Tropfen mehr über die Lippen bringen zu können. Unendlich müde kroch sie ans Ufer und rollte sich unter den bis in den Bach hinabreichenden Zweigen einer Trauerweide zusammen. Für einen Augenblick lauschte sie dem Wind im Geäst und dem Gezwitscher der Vögel. Hier schien sie den richtigen Platz gefunden zu haben, um sanft in die Stille des Todes hinüberzugleiten.Doch was sie umfing, war nur die Dunkelheit eines tiefen Schlafs.
In der Morgendämmerung wachte sie zitternd vor Kälte auf und kroch zum Wasser, um ihren nicht enden wollenden Durst zu löschen. Als sie sich wieder verkriechen wollte, machte der Hunger sich mit einer Macht bemerkbar, die keinen Widerstand zuließ. Frierend und schwitzend zugleich kämpfte Marie sich auf die Beine. Warum geht diese Qual nur immer weiter? Warum lässt Gott mich nicht sterben?, dachte sie verzweifelt. Sie taumelte vor Schwäche und kam nur langsam voran. Nach kurzer Zeit näherte sie sich einem kleinen Dorf, und ihre Hoffnung auf Hilfe überwog die Scham, im Schandkleid gesehen zu werden. Sie ging auf das erste Haus zu, um dort etwas zu essen zu erbetteln. Es war nicht mehr als eine Kate, vor der eine an einen Pfahl gebundene Ziege weidete. Ein kleiner Junge in einem schmierigen Kittel hockte neben dem Tier und kaute auf einem Kanten Brot herum.
Vor zwei Tagen noch hätte Marie so ein schmutziges, hart aussehendes Stück Kruste ins Schweinefutter geworfen. In diesem Augenblick aber erschien es ihr wie ein köstlicher Leckerbissen. Sie blieb vor dem Kind stehen und streckte bittend die Hand aus. »Gib mir ein bisschen von deinem Brot. Ich komme um vor Hunger.«
Der Junge sah zuerst sie an, dann sein Brot, und überlegte. Im selben Augenblick stürzte eine Frau aus der Kate und ging schimpfend auf Marie los. »Hat man denn gar keine Ruhe vor Bettlern und Gesindel? Mach, dass du verschwindest!«
»Bitte, gib mir nur ein Stück Brot«, flüsterte Marie. »Gott wird es dir vergelten.«
Die Frau musterte Maries gelben Kittel und spie angewidert aus. »Für eine wie dich habe ich nichts übrig. Hinweg, du Hurenstück, sonst mache ich dir Beine.«
Als Marie nicht sofort reagierte, bückte sich die Frau, hob einen Stein auf und schrie um Hilfe.
Marie sah mehrere Frauen und Männer auftauchen, deren Mienen nichts Gutes versprachen, und wandte sich zur Flucht. Steine und Erdklumpen flogen ihr hinterher, und ein Mann, der gerade aufs Feld gehen wollte, hob seine Hacke, als wolle er sie damit erschlagen. In dem Moment entwickelte Maries Körper noch einmal ungeahnte Kräfte. Sie floh vor der schreienden Menge, ohne ein einziges Mal zu stolpern oder etwas anderes zu empfinden als Todesangst. In ihrer Panik bemerkte sie nicht, dass die Leute ihr nur ein paar Dutzend Schritte folgten und dann wieder an ihre Arbeit zurückkehrten.
Marie blieb erst stehen, als von dem Dorf nichts mehr zu sehen war, und sank keuchend zu Boden. Doch die Furcht trieb sie rasch wieder auf die Beine. Nach wenigen Schritten entdeckte sie einen Busch, der eine Hand voll reifer Beeren trug. Marie pflückte sie und aß sie hastig. Die Früchte fachten ihren Hunger jedoch noch stärker an, und sie fragte sich
Weitere Kostenlose Bücher