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Die Wanderhure

Titel: Die Wanderhure Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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Hiltrud die Hand in die Bluse schob und sie lachend über seinen Hosenlatz strich, wandte sie sich jedoch schnell ab.
    Das half nicht viel, denn der Wagen stand direkt neben dem Zelt, und so vernahm sie die Anzüglichkeiten, die das Paar drinnen tauschte, und hörte Geräusche, die ihr Schauer über den Leib trieben. Entsetzt hielt sie sich die Ohren zu, ließ die Hände aber schnell wieder sinken, denn durch die sich spannenden Muskeln schien flüssiges Feuer zu laufen.
    Marie sagte sich, dass sie kein Recht hatte, sich für Hiltrud zu schämen oder sie für ihre Lebensweise zu tadeln. Die Frau war sicher nicht freiwillig zur Hübschlerin geworden. Trotzdem war es ihr unangenehm, nur wenige Schritt neben sich ein kopulierendes Paar zu wissen. Körperliche Liebe war etwas, über das nur Männer sprachen, und das auch nur, wenn keine Frau in ihrer Nähe war und der Wein ihnen die Zungen gelöst hatte. Frauen durften nicht einmal an fleischliche Dinge denken, wenn sie nicht als unkeusch und verworfen gelten wollten. Marie hatte in ihrem bisherigen Leben eifrig danach gestrebt, so zu werden, wie die heilige Mutter Kirche es von einer züchtigen Jungfrau erwartete, und musste sich nun sagen, dass sie den gelben Kittel zu Recht trug, denn in den Augen der Kirche und der ganzen Menschheit galt sie seit dem kirchlichen Urteil als Hure.
    Um sich abzulenken, sah Marie den beiden Ziegen zu, die nicht weit von ihr entfernt im Gras lagen und genüsslich wiederkäuten. Die Tiere wirkten so gelassen und zufrieden, als gäbe es keinen Kummer und keine Sorgen auf der Welt. Eine der Geißen hob den Kopf und musterte Marie neugierig, als wolle sie schauen, ob es einen Leckerbissen für sie gab. Da Marie nicht auf ihr Betteln reagierte, schnaubte das Tier enttäuscht und rupfte an einem Grasbüschel.
    Die Ziegen lenkten Marie nicht lange von ihrem Schmerz unddem Geschehen im Zelt ab, und so ließ sie ihren Blick weiterwandern. Marie kannte den großen Konstanzer Jahrmarkt und auch die kleineren Märkte, die dort zu den Festen verschiedener Heiliger abgehalten wurden. Seit sie sich erinnern konnte, hatte sie Wina oder ihren Vater dorthin begleiten dürfen. Vor ihren Augen tauchten die von Waren überquellenden Stände auf, an denen man leckere Bratwürste und süße Kuchen kaufen konnte. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen, als sie daran dachte, wie sie mit vollen Backen gekaut und den Erwachsenen zugehört hatte, die um Töpfe, Stoffe oder ganze Ladungen Wein feilschten. Zu ihrem heimlichen Kummer hatte man ihr nie erlaubt, den bunt gekleideten Gauklern zuzusehen, denn diese Leute waren in Winas Augen schlechtes Volk, die Hühner und kleine Kinder stahlen und von denen ein anständiges Mädchen sich fern halten musste.
    Hier in Merzlingen sahen die Buden und Zelte genauso aus wie in Konstanz, und doch war alles ganz anders. In Maries Nähe badeten zerlumpte Frauen sich und ihre Kinder ungeniert im Fluss und unterhielten sich dabei mit schrillen Stimmen, während eine auffallend dicke Frau in fremdartig bunter Tracht nicht weit vom Ufer entfernt ein Feuer anzündete und dünnflüssigen Teig in eine flache Pfanne goss.
    Ein bärtiger Mann schlenderte an ihr vorbei, nahm den ersten Pfannkuchen mit blanker Hand aus dem spritzenden Fett und biss mit offensichtlichem Genuss hinein. Was er zu der Frau sagte, verstand Marie nicht, aber die Dicke schien sich zu freuen, denn sie antwortete ihm lachend, während ihre Hände ohne Pause weiterarbeiteten. Ein junger Bursche, der dem Mann ähnlich sah, ließ sich den Pfannkuchen auf einem dünnen Brett servieren, von dem er ihn Stück für Stück mit den Lippen herunterriss, während er gleichzeitig mit drei Stöckchen jonglierte. Als der Bärtige fertig gegessen hatte, zog er mehrere Messer unter seinem Hemd hervor und schleuderte sie auf ein Brett, das amStamm einer Weide lehnte. Bei jedem Wurf traf er den farbig markierten Kreis in der Mitte der Scheibe.
    Ein Stück weiter versuchte ein Tonwarenhändler einer Kundin einen Topf schmackhaft zu machen. Die Frau prüfte das Gefäß sorgfältig, stellte es dann wieder hin und ging weiter, ohne etwas zu kaufen. Der Händler schimpfte verärgert hinter ihr her, verstummte aber, als er Maries Blicke bemerkte, verließ nach kurzem Zögern seinen Stand und kam auf sie zu.
    »Du bist doch die Kleine, die Hiltrud unterwegs aufgelesen hat?« Marie nickte und wurde rot, denn aus dem Zelt drangen immer noch Paarungslaute. Den Mann schien das nicht zu stören.

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