Die Wanderhure
Appetit löffelte sie Fleischbrühe, in der bittere Heilkräuter schwammen. Als das Keuchen des Mannes aus dem Zelt drang, ließ sie den Napf fallen und hielt sich die Ohren zu. Sein Stöhnen und Grunzen erinnerte sie zu sehr an die schrecklichen Augenblicke im Kerker. Um dieser quälenden Erinnerung zu entkommen, stand sie auf und reihte sich in das Gewimmel der Marktbesucher ein. Aber die Reaktion der Leute um sie herum machte ihr schnell klar, was es hieß, eine Ausgestoßene zu sein. Die ehrbaren Frauen rafften bei ihrem Anblick ihre Kleider an sich, um sie ja nicht zu berühren, und schimpften mit ihren Männern, die sie ungeniert anstarrten oder versuchten, sich ihr zu nähern.
Als Marie durch den Tränenschleier vor ihren Augen eine Gruppe angetrunkener Männer auf sich zukommen sah, die gerade ein paar Mägden schmutzige Bemerkungen zuriefen, beeilte sie sich, in eine andere Budengasse zu kommen. Es war doch etwas anderes, im Schutz eines liebevollen, großzügigen Vaters über einen Markt zu schlendern, die höflichen Grüße der Nachbarn zu erwidern und Leckereien zu naschen, die sie jetzt nur von weitem sehnsüchtig betrachten durfte.
Mit einem Mal bekam sie es mit der Angst zu tun und wollte rasch zu Hiltruds Zelt zurückkehren, fand aber den Weg nicht und sah sich verwirrt um. In ihrer Nähe unterhielt eine Gruppe Gaukler ihre Zuschauer mit akrobatischen Kunststücken und fremdartiger Musik. Als sie vor einem Feuerspucker zurückwich, kam ein junges Mädchen auf sie zu und hielt ihr einen kleinen Strohkorb vor die Nase, in dem bereits etliche Münzen klimperten.
Marie senkte beschämt den Kopf. »Ich habe kein Geld.«
Die Gauklerin fauchte giftig und hob die Hand, als wolle sie sie schlagen. »Dann brauchst du auch nicht zu gaffen. Mach, dass du weiterkommst, du Hure.«
Marie hastete auf den Rand des Marktes zu und entdeckte bald auch den Baum, unter dem Hiltruds Ziegen weideten. Auf dem Weg kam sie an einem Stand vorbei, an dem ein älterer Mann in Honig eingelegte Früchte und Trockenobst anbot. Es roch so köstlich, dass ihr das Wasser im Mund zusammenlief. Da sie kein Geld besaß, ging sie rasch vorbei. Sie kam jedoch nicht weit, denn der Besitzer des Standes lief ihr nach und packte sie am Arm.
»Hast du keinen Appetit auf eine Honigbirne, Jungfer?«
»Ich kann sie nicht bezahlen.« Marie hoffte, er würde sie nach diesen Worten gehen lassen. Stattdessen zog er sie näher an sich heran, bis sich ihre Gesichter fast berührten.
»Von einem so hübschen Kind wie dir nehme ich doch kein Geld. Komm mit mir in die Büsche, und ich schenke dir die schönste Birne, die ich habe.« Dabei schob er die Hand in ihren Ausschnitt. Der Schreck gab Marie die Kraft, sich loszureißen und davonzulaufen.
Zu ihrer Erleichterung folgte ihr der Mann nicht, sondern schrie nur hinter ihr her.» Was ist denn mit dir los? Du bist doch die kleine Hure, die mit Hiltrud gekommen ist. Wenn du eine Birne haben willst, musst du sie dir verdienen.«
Marie schüttelte sich und stolperte weiter. Als sie sich neben dem Zelt niederließ, schlug sie die Hände vors Gesicht. Galten Moral und die Gebote der Kirche außerhalb der Stadtmauern so wenig, dass sie für ein Stück in Honig eingelegtes Obst feil waren? Jetzt verstand sie, warum ihr Vater ihr an ihrem zwölften Geburtstag verboten hatte, weiterhin mit anderen Kindern draußen auf dem Anger zu spielen. Aus dem gleichen Grund hatte er sie nicht mehr ohne Begleitung aus dem Haus gehen lassen. Er hatte sie wirklich sorgsam behütet, jedenfalls bis zu dem Augenblick, als ihm das Angebot des Magisters so den Kopf verdreht hatte, dasser alle Vorsicht vergaß und bösartigen Verleumdern Tor und Tür öffnete.
Mit einem Mal stand Marie das Gesicht ihres Bräutigams vor Augen. Es war schon seltsam, wie bereitwillig er diesen Lügnern geglaubt hatte. Wenn sie es genau bedachte, hatte erst seine Bereitschaft, sie zu verdammen, dazu geführt, dass sie misshandelt werden konnte. Also war er nie an ihr selbst interessiert gewesen, sondern nur an ihrem Erbe. Aber er hätte doch wissen müssen, dass ihm durch seinen übertriebenen Stolz ein Vermögen entging. Oder hatte er inzwischen eine noch reichere Braut gefunden und sie auf diese Weise loswerden wollen? Marie versuchte noch eine Weile, sich an jedes Wort und jeden Gesichtsausdruck ihres Verlobten zu erinnern, aber auch das löste das Rätsel nicht. So konnte sie nur hoffen, ihr Vater würde ihr alles erklären können, wenn er
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