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Die Wanderhure

Titel: Die Wanderhure Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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jetzt auf einer Decke vor ihrem Zelt. Während sie die wärmenden Sonnenstrahlen genoss, nähte sie einen Riss in ihrem Kleid. Der Geruch eines aufglimmenden Holzkohlenfeuers lenkte sie jedoch bald ab. Hulda, die eine Garküche betrieb, legte die ersten Bratwürste auf den Rost, und kurz darauf zog ein verführerischer Duft über den Markt. Marie schnupperte genießerisch. Als sie aufstehen und zu ihr hinübergehen wollte, trat Hiltrud aus dem Zelt.
    »Du kannst es wohl nicht erwarten, bis Hulda die ersten Würste fertig hat.«
    »Was ist gegen eine Bratwurst am Morgen einzuwenden, zumal sie in dieser Gegend mit am besten schmecken?«
    Hiltrud betrachtete ihre Freundin mit sanftem Spott. »Dir schmecken sie überall gleich gut. Aber ich will ja nicht so sein und bringe dir ein Paar mit.«
    Marie sah ihr nach und dachte sich, dass Bratwürste eine der seltenen Freuden waren, die sie sich leisten konnte. Seit sie mit Hiltrud zusammen über die Straßen zog, hatte sie gelernt, mit sehr wenig zufrieden zu sein, und die Erinnerung an ihr früheres Lebenerschien ihr mehr und mehr wie ein Kindertraum. Mehr als drei Jahre waren inzwischen vergangen, seit Hiltrud sie halb tot vom Straßenrand aufgelesen und mitgenommen hatte, drei Jahre, in denen sie die Verachtung der ehrbaren Welt und die Freundschaft der Verachteten kennen gelernt hatte. Doch weder die Zeit noch all das, was sie seither erlebt hatte, hatten die Bitterkeit aus ihrem Herzen tilgen können, die sich nach dem Schandurteil in ihr eingenistet hatte.
    Manchmal musste Marie sich zwingen, nicht auf der Stelle nach Konstanz zu laufen und den ehrwürdigen Herrschaften dort ihre Ungerechtigkeit ins Gesicht zu schreien. Wenn sie unter einem besonders rücksichtslosen Freier lag und die Hände in ohnmächtiger Wut ballte, rechnete sie nach, wie viel Geld sie noch benötigte, um einen Meuchelmörder zu bezahlen, der ihren ehemaligen Bräutigam und die Schurken, die sie damals vergewaltigt hatten, für sie umbrachte. Wenn sie mit Hiltrud darüber sprach, verspottete diese sie wegen ihres Wunschtraums oder schimpfte sogar mit ihr. Marie hielt dieses Leben jedoch nur aus, weil sie sich an die Hoffnung klammerte, sich eines Tages rächen zu können. Irgendwann würde sie es den Männern heimzahlen, die ihr das angetan hatten, und dabei auch die verleumderische Witwe Euphemia Schusterin nicht vergessen.
    »Drehst du im Geist diesem Ruppert mal wieder den Kragen um?« Hiltruds Stimme riss Marie aus ihren Gedanken. Die beiden Bratwürste, die die Freundin ihr hinhielt, entbanden sie einer Antwort. Sie nahm die Würste vom Brett und jonglierte sie in den Händen, weil sie noch so heiß waren.
    »Gierhals.« Hiltrud sah sie kopfschüttelnd an und setzte sich zu ihren Ziegen ins Gras. Während die beiden Frauen aßen, hingen sie ihren Gedanken nach. Hiltrud machte sich Sorgen um Marie, die sich mit Hirngespinsten herumschlug, an denen sie eines Tages noch zugrunde gehen würde. Sie hatte schon zu viele Hübschlerinnen gesehen, die irgendwann verrückt geworden warenoder sich umgebracht hatten, weil sie mit der Erinnerung an ihr früheres Leben und das echte oder vermeintliche Unrecht, das ihnen zugefügt worden war, nicht fertig geworden waren. Um ihre Freundin nicht in Versuchung zu führen, sich auf eigene Faust zu rächen, und in der Hoffnung, Marie würde allmählich Vernunft annehmen, hatte sie die Gegend um Konstanz bislang weiträumig gemieden. Doch weder Schelten noch gute Worte hatten die Freundin bisher dazu gebracht, einzusehen, dass die Welt nun einmal ungerecht war, und einen Schlussstrich unter ihre Vergangenheit zu ziehen.
    Marie sah Hiltrud an, dass sie sich Sorgen um sie machte. Es tat ihr Leid, denn sie wollte ihr keinen Kummer bereiten. Hiltrud war ihr von Anfang an eine gute und fürsorgliche Gefährtin gewesen und hatte sie nie als Magd behandelt oder zu etwas Unerträglichem gezwungen. Marie erinnerte sich noch an ihren ersten Kunden, den die erfahrene Hure mit großer Sorgfalt für sie ausgewählt hatte. Es war ein angenehmer und zärtlicher Mann gewesen, der sehr vorsichtig mit ihr umgegangen war.
    Trotzdem hatte sie den Geschlechtsakt mit geballten Fäusten, zusammengebissenen Zähnen und geschlossenen Augen über sich ergehen lassen. Ohne Gerlinds Trank, der sie in eine Wolke der Gleichgültigkeit getaucht hatte, wäre sie schreiend aus seiner Nähe geflohen. In der folgenden Zeit hatte sie das betäubende Mittel tagtäglich benutzt, bis Hiltrud es ihr

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