Die Wandersängerin: Historischer Roman (German Edition)
neben Annelies nieder und legte ihr den Arm um die Schulter. Sanft strich die Kaufmannstochter ihrer Zofe übers Haar und wartete, bis die sich so weit beruhigt hatte, um sprechen zu können. Draußen kamen die Donnerschläge in immer kürzeren Abständen. Viel Zeit für ein ungestörtes Gespräch würden sie nicht haben, aber es musste genug sein, um Annelies zu beruhigen.
»Jetzt sag schon, was passiert ist«, ermunterte Arigund ihre Zofe zum Sprechen.
»Er …, er will ihn aufhängen lassen, morgen«, schluchzte die Zofe. Neue Tränen strömten über das runde Gesicht. Draußen ging der Regen in Hagel über. Ein gewaltiger Donner ließ die Mädchen zusammenzucken.
Arigund verstand noch immer nicht. »Wer will wen aufhängen lassen und warum?«
»Wirtho will Matthias umbringen.«
Arigund schüttelte ungläubig den Kopf. »Ach was, niemals. Das ist doch sein bester Stallknecht.«
»Aber ich hab doch gehört, wie er es gesagt hat.«
»Reimar meint, Wirthos Zorn ist wie das nächtliche Quaken der Frösche, laut und lästig und doch am nächsten Tag vergessen«, versuchte Arigund zu trösten.
»Aber man hat Matthias in den Turm gesperrt und nennt ihn einen Pferdedieb!«
»Unsinn! Morgen, wenn die nächste Wiese zu heuen ist, lässt man den Rotschopf wieder raus, wird man doch seine starken Arme benötigen.«
Annelies schüttelte den Kopf, dass die Tränen nach allen Seiten kullerten. »Die Herrin Kunigund hat seine Einkerkerung befohlen.«
Arigund erschrak. Das war allerdings etwas anderes. In diesem Fall musste an der Sache was dran sein. Behutsam versuchte sie aus Annelies herauszubekommen, was geschehen war. Im Laufe des Berichts wurde ihre Miene immer ernster. Obwohl sie ein wenig Schadenfreude empfand, als sie erfuhr wie sehr das Maultiergespann Wirtho zugesetzt hatte, sah sie doch, dass Matthias gefährlich in der Patsche steckte. Zwar kannte Arigund die Gesetze auf der Burg nicht genau, aber ganz sicher war es einem Knecht nicht gestattet, sich mir nichts, dir nichts das Pferd des Truchsess zu schnappen und damit wegzureiten – nicht einmal, wenn er damit Schlimmeres verhindern wollte. Es wäre Aufgabe der Ritter gewesen, die Heldentat zu vollbringen. Hinzu kam, dass Wirtho gegen Matthias einen unerklärlichen Groll hegte. Arigund hatte ihn in den letzten Wochen oft genug den beiden hinterherspionieren sehen. Konnte es sein, dass er wegen Annelies eifersüchtig war und nur auf eine Gelegenheit gewartet hatte, einen unliebsamen Konkurrenten aus dem Weg zu schaffen? Aber Arigund hatte angenommen, Wirtho wäre in Berta verliebt. Was war es dann, was er von der Zofe wollte? Von draußen war hektisches Rufen zu hören. Jemand pochte energisch gegen das Scheunentor. Arigund wurde nervös. Was konnte sie für Matthias tun? Auf die Schnelle vermutlich gar nichts, aber mit Reimar sprechen ginge immerhin.
»Hm«, meinte die Kaufmannstochter. »Immerhin ist Zeit gewonnen, bis der Truchsess zurückkehrt. Er ist bei Bertas Vater, um für Wirtho zu werben. Weiß der Himmel, wie lange das dauert. Bis dahin versuche ich bei Reimar in Erfahrung zu bringen, womit Matthias zu rechnen hat.«
Arigund erhob sich. Gerade rechtzeitig, denn die Tür wurde aufgerissen und Knechte lugten durch die Türöffnung.
»Verzeiht, Herrin, aber wir müssten …«, entschuldigten sie sich. Erneut ergriff Annelies Arigunds Hand. »Könntet Ihr nicht bei Frau Berta ein gutes Wort für Matthias einlegen? Auf sie hört Wirtho gewiss.«
Traurig schüttelte ihre Herrin den Kopf und zog ihre Hand zurück. »Ich befürchte, Berta hat kein offenes Ohr für solche Angelegenheiten.«
»Vielleicht aber doch«, beharrte Annelies und versuchte wieder nach der Hand zu greifen. Es schmerzte Arigund, ihre Zofe so zu sehen, aber jetzt war weder Zeit noch Ort, die Angelegenheit in Annelies’ Sinne zu regeln. Als Herrin konnte sie für ihr Kammermädchen in diesem Augenblick nicht mehr tun, als sie zu vertrösten.
»Es würde seine Lage nur verschlimmern, aber ich verspreche zu tun, was ich kann. Lass den Mut nicht sinken, Annelies, ja?«
Mit hängenden Schultern schlurfte die Zofe davon. Ohne weiter darüber nachzudenken, wandte sie sich dem Ort zu, wo sie immer Zuflucht gesucht hatte, der Küche.
*
Eine gewaltige Dampfwolke quoll dem Mädchen entgegen. Hier drin war die Luft zum Schneiden dick, und die Gespräche waren erstaunlich wortkarg. Annelies entdeckte durch ihre verquollenen Augen hindurch einen Korb mit verschrumpelten Äpfeln, griff
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