Die Wandersängerin: Historischer Roman (German Edition)
zwischen seinen Fingern hervor. Die Stränge hatten ihm tief in die Hand geschnitten.
»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte die Magd.
Matthias nickte. »Kümmere dich um Lukki«, forderte er sie auf. »Die Maultiere lass lieber mich führen.«
*
Arigund hatte nicht geahnt, wie viel Arbeit es bedeutete, ein Rittergut zu leiten. In ihrer Vorstellung hatte sich ein Minnehof dadurch ausgezeichnet, dass man sich in schönen Künsten übte, die Damen eventuell Handarbeiten machten oder den Männern beim Kämpfen zusahen. Was sie in den letzten Wochen erlebt hatte, war jedoch mehr als ernüchternd. Auf das nasse Frühjahr war ein heißer Sommer gefolgt. Alle hatten von der Heuernte gesprochen, und als sie endlich angebrochen war, hätte die Kaufmannstochter gern die langweiligen Handarbeitsstunden gegen die Landarbeit getauscht. Zwar waren Kunigunds Mädchen von der Erntetätigkeit freigestellt, aber es gab trotzdem unglaublich viel zu tun. Die Hörigen und Fronbauern mussten verköstigt und untergebracht werden. Die Frondienststunden mussten erfasst, die eintrudelnden Vorräte und Abgaben mussten verbucht und, wenn es sich um lebende Tiere handelte, untergebracht oder geschlachtet werden. Die Frauen in der Küche waren mit dem Einkochen von Beeren und mit Räuchern beschäftigt. Doch gerade in der Verwaltung des Chaos kamen Arigunds Kaufmannsfähigkeiten bestens zur Geltung. Frau Kunigund hatte rasch erkannt, dass sie mit diesem Mädchen zwar keine Handarbeitskönigin, aber eine probate Verwalterin gewonnen hatte. Arigund war trotz ihrer Jugend ein Fels in der Brandung. Nichts schien sie aus der Ruhe zu bringen. Sie arbeitete konzentriert und systematisch, sodass am Ende des Tages nicht ein Ei fehlte.
Auch die Zofe entpuppte sich als Zugewinn. Sie ging ihrer Herrin hilfreich zur Hand und war mit Nadel und Faden sehr geschickt. Zwar war die Liebelei zwischen dem Mädchen und dem rothaarigen Knecht durchaus auch an das Ohr der Herrin gedrungen, aber es hatte keine unangenehmen Vorfälle mehr gegeben. Die beiden schienen sich schicklich zu verhalten oder zumindest darauf zu achten, dass das Mädchen nicht schwanger wurde. Frau Kunigund stand gerade im Vorratsraum und ging die Lagermöglichkeiten für das Heu durch, als sie den Lärm auf dem Hof hörte. Gemessen schritt sie hinaus. Mitten auf dem Hof standen die beiden Heuwagen, einer allerdings übel in Mitleidenschaft gezogen und halb leer. Die Geschirre der Maultiere waren teilweise zerrissen. Die Flanken der Tiere bebten, und ihre Hälse waren von weißem Schaum bedeckt.
»Ein Unfall!«, war Kunigunds erster Gedanke. Dann entdeckte sie Matthias auf Wirthos Braunem, und ihre Beine wurden schwach. »Wirtho! Um Himmels willen!«
Der Reitknecht sprang augenblicklich vom Pferd, als er die Burgherrin erspähte. Ein greller Blitz zuckte am Horizont auf, gefolgt von einem mächtigen Donner. Die Maultiere keilten aus und trafen das Waagscheit.
»Rasch in die Scheune mit den Wagen«, befahl Frau Kunigund. »Matthias, was ist …« Das Donnern von Hufen unterbrach sie. Reiter sprengten auf den Burghof. Die verängstigten Maultiere versuchten, sich erneut loszureißen. Wirtho sprang noch im Trab ab, stürzte auf Matthias zu und schlug ihm mit der Faust mitten ins Gesicht. Der Knecht schaute verblüfft und ging zu Boden. Mit wutverzerrter Miene trat der junge Truchsess dem Knecht in die Rippen, sodass er aufschrie, aber Wirtho hörte nicht auf. Matthias versuchte sein Gesicht mit den Unterarmen zu schützen, entblößte dadurch aber seinen Unterleib, was der junge Ritter gnadenlos ausnützte. Lukki, der winzige Pferdeknecht, wollte dem Gepeinigten zu Hilfe eilen, wurde aber von einem anderen Knecht am Hemdzipfel festgehalten. Der Hof füllte sich immer mehr mit finster dreinblickenden Leibeigenen und Frondienstlern. Die ersten Stimmen wurden laut: »Aufhören!«
Schwielige Hände krallten sich um Mistgabeln und Heurechen. Braune Augen blitzten aus den schmutzigen Gesichtern. Selbst Frauen mit gebeugtem Rücken ballten die Fäuste. Es war noch immer drückend heiß, obwohl Wolkenberge bereits die Sonne verhüllten. Der Burgherrin rann der Schweiß den Rücken herunter. Sie sah hinüber zur Burgwache, die den Tumult zwar bemerkt hatte, aber dem herannahenden Unwetter weit mehr Beachtung schenkte. Der junge Herr schien die Lage ja im Griff zu haben. Die ersten stummen Blitze zuckten am Himmel auf. Eine alte Vettel bekreuzigte sich und schrie: »Der Beelzebub hat vom jungen Herrn
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